T Tödliche Spur: Thriller (German Edition)
verlassene Klinik in Sicht, eine Festung aus Stein und Beton, die auf einem kahlen Hügel hoch über dem Ozean aufragte. Verwitterte Eisengitter hingen vor den Fenstern, der heruntertropfende Rost färbte die grauen Wände darunter rotbraun. Zerbrochene Glasscheiben waren mit Brettern vernagelt, eine Fahnenstange stand da wie ein verlorener Wachposten, die verrostete Kette klapperte im Wind. Ava spürte erste Regentropfen auf den Wangen.
Ein Schatten fiel über die dicke Steinmauer, und für den Bruchteil einer Sekunde meinte sie, eine dunkle Gestalt darauf zu erblicken, doch als sie die Augen zusammenkniff und genauer hinschaute, war niemand zu sehen. Sie schauderte. Sea Cliff war ein unheimlicher Ort. Nein, sie wollte jetzt nicht über die Anstalt und ihre furchterregenden ehemaligen Insassen nachdenken, jetzt, da sie sich zum ersten Mal seit ewiger Zeit wieder frei und glücklich fühlte.
»Lass dir das nicht nehmen«, flüsterte sie, zügelte Jasper und fiel in einen leichten Trab. Plötzlich öffnete der Himmel seine Schleusen, und sie mussten in das Dickicht aus Hemlocktannen und Kiefern flüchten, wo sie im Schritt unter den tropfnassen Ästen hindurchritten. Der Geruch nach nasser Erde vermischte sich mit der salzigen Luft.
Ava sah Jaspers dampfenden Atem und verspürte ein Frösteln ob der völligen Abgeschiedenheit, in der sie sich auf dieser Insel befand. Church Island war ein einsamer Ort, abgeschnitten vom Festland, doch die Isolation hatte ihr früher nie zu schaffen gemacht, im Gegenteil: Sie hatte ihr Kraft gegeben und zu innerem Frieden verholfen. Doch das war vor den Schicksalsschlägen gewesen …
Der Pfad wand sich hügelan zu einer Stelle, wo die Bäume einer Landzunge wichen, von der aus man einen atemberaubenden Blick auf die Meerenge hatte. Von diesem Punkt aus konnte sie die anderen Inseln sehen, dunkle Spitzen, die aus den bewegten Wassern dieses Pazifikseitenarms ragten.
Das letzte Mal war sie am Morgen nach Noahs Verschwinden hier gewesen. Sie hatte in Neptune’s Gate jedes Gebäude, jeden Winkel des Haupthauses abgesucht und war schließlich durch die Wälder zu ebenjener Landzunge geritten. Dort hatte sie auf die See hinausgeblickt, voller Furcht, seinen kleinen Körper auf den Wellen treiben zu sehen. Sie hatte sogar versucht, die verfallene Holztreppe zu dem kleinen Stück Strand mit dem seit Jahrzehnten nicht mehr benutzten Bootsanleger hinabzusteigen, außer sich vor Angst, getrieben von dem unbedingten Wunsch, ihren Sohn zu finden. Umtost vom Wind, die aufgewühlte See unter sich, die Taschenlampe fest in einer Hand, hatte sie sich an das wackelige Geländer geklammert.
Dann war sie vorsichtig Stufe für Stufe hinabgeklettert und hatte dabei ein Stoßgebet nach dem anderen zum Himmel geschickt.
Lieber Gott, bitte mach, dass ich ihn finde.
Bitte mach, dass er am Leben ist.
Bitte mach, dass es ihm gutgeht … bitte, bitte, bitte …
»Noah!«, hatte sie gerufen, doch der Wind hatte ihre Worte verschluckt. »Noah!« Dann leiser, eher ein Schluchzen: »Bitte, mein Kleiner, bitte … komm zu Mama … bitte …«
Die Kapuze war ihr vom Kopf geweht, das Haar in ihr Gesicht geflattert.
Stufe für Stufe nach unten. Ein Schritt, noch einer …
Auf dem ersten Absatz war sie stehen geblieben, hatte tief Luft geholt und dann den Rest der Treppe in Angriff genommen, die unter ihrem Gewicht ächzte.
Sie würde es schaffen.
Musste ihn finden.
Wo war ihr Kleiner?
Wo?
»Noah!«
Kraaach!
Das morsche Holz splitterte.
Die Stufe gab nach.
Schreiend stürzte Ava vornüber. Ihr Fuß verfing sich in dem klaffenden Loch, sodass sie sich im Fallen den Knöchel verdrehte.
Panisch tastete sie nach dem Geländer.
Die Taschenlampe flog ihr aus der Hand, wirbelnd verschwand der Lichtstrahl in der Dunkelheit.
»Hilfe!«, schrie sie, kopfüber nach unten hängend, die Hände am wackeligen Geländer. Sie versuchte, ihren Fuß aus dem Loch zu ziehen, doch das war unmöglich. »Hilfe!«
Eine Böe ließ die baufällige Holztreppe vor dem schroffen Felsen erzittern.
Ava nahm all ihre Kräfte zusammen, zog sich mit beiden Händen hoch, hievte sich vorsichtig auf eine höhere Stufe und befreite ihren Fuß, immer noch fest entschlossen, den kleinen Strand unten nach ihrem Sohn abzusuchen. Vorsichtig der geborstenen Stufe ausweichend, hinkte sie aller Gefahr zum Trotz die Treppe hinunter, bis sie am Fuß angekommen war. Ein Stück entfernt erkannte sie das schwache Licht ihrer Taschenlampe
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