T Tödliche Spur: Thriller (German Edition)
vermisste und sie sich eine Erklärung überlegen musste.
Ohne zu zögern nahm sie den Schlüssel und widmete sich den alten Truhen, Pulten oder Kommoden, allem, was ein Schloss hatte. Bei all dem Gerümpel um sie herum, das sich in den vergangenen hundert Jahren angesammelt hatte, war das sehr aufwendig. Generation um Generation hatten die Churches ihre ausrangierten Dinge hier heruntergebracht.
Trotzdem arbeitete sie sich vom hinteren Ende des Kellers vor und probierte Schloss um Schloss aus.
Zuerst versuchte sie es bei einem Rollschreibtisch.
Fehlanzeige.
Als Nächstes folgten zwei Truhen aus dem letzten Jahrhundert.
Nichts.
Sie testete den Schlüssel bei einem Aktenkoffer und bei einem Tagebuch, doch ihre Schlösser waren viel zu klein. Je weiter sie sich vorarbeitete, desto beklommener wurde ihr zumute. Es war fast so, als würde sie die Geister ihrer Ahnen wecken, dachte Ava und spürte, wie ihr ein Schauer den Rücken hinablief, ein Schauer, der nichts mit der Kälte zu tun hatte, die hier unten herrschte.
Reiß dich zusammen, Ava.
In einer Ecke entdeckte sie einen Sekretär und hätte fast gejubelt, als sich der Schlüssel ins Schloss stecken ließ, doch ihr Triumphgefühl dauerte nur eine Sekunde: Der Schlüssel ließ sich nicht bewegen.
»Es hat keinen Sinn«, murmelte sie. Sie war nun seit fast einer Stunde im Keller, und sie hatte noch immer keinen blassen Schimmer, zu welchem Schloss der verflixte Schlüssel gehörte. Vielleicht hatte er gar nichts mit Neptune’s Gate zu tun.
Mitten im Keller blieb sie stehen und versuchte sich zu konzentrieren. Wozu könnte der Schlüssel passen?
»Zu gar nichts«, murmelte sie schließlich.
Vermutlich ist das Ganze bloß ein schlechter Scherz. Würde zu Jewel-Anne passen.
»Aber warum?«, fragte sie sich. Hatte ihre Cousine Langeweile, oder war sie einfach nur bösartig?
Kopfschüttelnd ging Ava weiter. Sie stieß auf einen Schminktisch mit einem dreiteiligen Spiegel. Aus dem staubigen, fleckigen Glas blickte ihr ihr blasses, besorgtes Spiegelbild entgegen. »Na, du?«, flüsterte sie der Frau im Spiegel zu und setzte sich auf die verschossene Polsterbank. Vor ihrem inneren Auge sah sie ihre Großmutter in ihrem Schlafzimmer im ersten Stock auf ebenjener Polsterbank sitzen und sich im Spiegel betrachten. Grannie hatte ihr schneeweißes Haar immer zu einem perfekten Knoten geschlungen, doch zur Nacht hatte sie diesen gelöst und ihr Haar vor dem Spiegel ausgebürstet, bis es in dicken Wellen über ihre knochigen Schultern fiel. Ava hatte bei ihr im Schlafzimmer sein dürfen, in dem es nach Joy duftete, einem teuren Parfüm aus Jasmin- und Rosenessenzen, das auch Jacqueline Onassis trug – zumindest hatte Grannie das behauptet. Ava erinnerte sich, wie Grannie ihr Profil im Spiegel betrachtet und den Hals vorgereckt hatte, um ihr schlaffes Kinn zu straffen. Sie hatte Grannies Haar bürsten dürfen, ein Privileg, das diese ihren anderen Enkelkindern nicht gewährte.
Ein kühler Luftzug strich über ihren Nacken und ließ Ava erneut schaudern. Fast konnte sie ihre Großmutter flüstern hören:
Gib nicht auf, Ava. Du bist eine Church, eine Kämpferin. Lass dich nicht zum Narren halten …
Wumm!
Etwas war auf den Betonboden geprallt.
Ava schrie unwillkürlich auf und ließ vor Schreck den Schlüssel fallen, dann sprang sie hoch, fuhr herum und stieß sich das Knie an Grannies Schminktisch. Die Spiegel wackelten. Suchend glitt Avas Blick über die alten Möbel in dem dämmrigen Keller.
»Ist da jemand?«, fragte sie. Ihr Herz raste, ihre Nerven waren gespannt wie ein Flitzbogen.
Alles blieb ruhig.
Nichts war zu hören außer dem wilden Galoppieren ihres Herzens.
»Zeigen Sie sich!«, befahl sie mit trockener Kehle.
Doch niemand erschien.
Nichts deutete darauf hin, dass außer ihr noch jemand anderer hier unten war.
Trotzdem konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, dass sich jemand in den dunklen Ecken des Kellers versteckte. Sie beobachtete. Belauerte.
Ava spitzte die Ohren und horchte, und für einen kurzen Augenblick meinte sie, Musik zu hören, einen alten Elvis-Hit, der durch den Heizungsschacht unter der Decke drang.
Sie zwang sich, wieder normal zu atmen.
Den Knall hatte sie sich nicht eingebildet.
Etwas war definitiv zu Boden gefallen.
Und zwar nicht von allein.
Ohne den Blick zu senken, ging sie in die Knie und tastete auf dem Fußboden nach dem Schlüssel. Weil sie ihn nicht sofort fand, zog sie ihr Handy aus der Tasche und
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