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Tabu: Roman (German Edition)

Tabu: Roman (German Edition)

Titel: Tabu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ferdinand von Schirach
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Sie hatte zwei Telefone, sie sprach französisch, englisch, arabisch und deutsch. Er sah aus dem Fenster. Irgendwann hörte er sie nicht mehr. Es war ein Fehler, dachte er, und er wusste nicht mehr, warum er neben dieser Frau im Auto saß.
    Sofia wollte über die Küstenstraße fahren. Dreißig Kilometer vor Deauville begann es so stark zu regnen, dass sie anhalten mussten. Sofia parkte den Wagen unter einem Baum. Sie beugte sich zu ihm, küsste ihn und öffnete seine Hose. Er hatte eine fast schmerzhafte Erektion. Sie setzte sich auf ihn. Eschburg drehte den Sitz nach hinten. Durch die Rückscheibe sah er einen Radfahrer, der auch Schutz unter dem Baum gesucht hatte. Die Haare hingen ihm ins Gesicht, er starrte Eschburg und Sofia an. Eschburg schloss die Augen. Sofia lag auf ihm, ihr Gesicht neben seinem Gesicht. Ihre Bewegungen, ihr Geruch waren ihm fremd. Die Scheiben des Wagens beschlugen. Nach einer halben Stunde wurde der Regen schwächer und sie fuhren weiter.
    In Deauville waren alle Hotels belegt, nur in einer heruntergekommenen Pension fanden sie ein Zimmer. Sie gingen zum Meer. Sie saßen auf einer Bank im Nieselregen, sie berührten sich nicht.
    Lange nachdem sie in der Pension eingeschlafen war, stand er auf, ging auf den winzigen Balkon und zog die Tür hinter sich zu. Der Himmel war schwarz, er verschmolz mit dem Meer. Es würde bald wieder regnen. Die Lichtreklame der Pension leuchtete an der Wand über ihm. Er überlegte, ob es einen Zug zurück nach Paris gab, er könnte jetzt gleich zum Bahnhof gehen und nachsehen. Er ging zurück in das Zimmer, suchte im Halbdunkel seine Kleider und zog sich an.
    »Geh nicht«, sagte sie.
    »Es ist zu kompliziert«, sagte er. Er hatte seine Schuhe in der Hand.
    »Das ist es immer«, sagte sie. »Komm.«
    Er legte sich in seinen Kleidern auf das Bett neben sie. Er sah den Staub auf den Lamellen der Holzjalousien. Sofias Atem war ruhig und gleichmäßig. Allmählich entspannte er sich.
    Sie drehte sich auf den Bauch und stützte ihr Kinn in ihre Hände. »Bist du immer so ernst?«
    »Ich weiß nicht«, sagte er.
    »Deine Fotos sind ernst. Du machst etwas mit diesen Bildern, was ich noch nicht verstehe. Mein Vater war auch so, aber er ist schon lange tot«, sagte sie. »Wusstest du, dass der Ton deiner Bilder, dieses Sepia, die Tinte des Tintenfisches ist? Manche Ärzte verschreiben sie gegen Depressionen, gegen die Leere und Einsamkeit. Sie sagen, sie könne die verletzte Würde des Menschen heilen.«
    Er hörte den Wind und den Regen, der wieder eingesetzt hatte und gegen die Scheiben schlug.
    »Was ist mit deinen Eltern?«, fragte sie.
    »Ich habe keinen Kontakt zu meiner Mutter.« Sein Mund war trocken.
    »Und dein Vater?«
    Er antwortete nicht. Dann dachte er an das Haus am See, das jetzt weit weg war, und plötzlich war er dankbar für Sofias Stimme, für ihren Mund und ihre Haare und ihre Haut, die warm und aus Bronze war.
    »Hat dich der Radfahrer erregt?«, fragte sie nach einer Weile.
    »Du hast ihn gesehen?«, fragte er.
    Sie nickte. Dann stand sie auf und öffnete die Tür des Zimmers zum Gang. Sie kam zurück in das Bett, schob sein Hemd nach oben und zog seine Hose aus. Sie küsste seine Brust und seinen Bauch und glitt zwischen seine Beine. Er wollte sie zu sich ziehen, aber sie drückte ihn zurück auf das Bett. Er spürte ihre Brüste auf seinen Oberschenkeln. Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht, damit er ihr zusehen konnte.
    Er fragte sich, ob das alles etwas bedeute, ob das Zimmer etwas bedeute oder das Bild über dem Sofa oder der Balkon mit dem Gitter aus Eisen. Es musste etwas bedeuten, aber er wusste nicht, was es war.
    Er brauchte lange, bis er kam.
    Sobald es draußen heller wurde, stand er auf und holte aus dem Frühstücksraum Croissants und Kaffee. Sofia war wieder eingeschlafen. Ihr Mund stand offen, sie sah aus wie ein Kind. Er setzte sich mit dem Kaffee auf den Balkon. Der Strand war vom Regen dunkel.

15
    Zwei Wochen später saß das Modell für die Werbekampagne auf einem Hocker vor der Ziegelsteinwand in Eschburgs Atelier. Es würde ein gutes Bild werden, so wie alle Bilder gut wurden. Eschburg sah durch den Sucher der Kamera. Er wusste nicht, wie oft er dieses Foto schon gemacht hatte. Die Frau hatte Brust und Kopf vorgeschoben, sie straffte ihren Hals, sie lächelte. Ihr Gesicht hatte eine perfekte Symmetrie. Die Glieder ihrer Halskette werden auf dem Bild als Ovale sichtbar sein, sie werden die Helligkeit ihrer Zähne haben,

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