Tabu: Roman (German Edition)
dachte Eschburg. Er sah alles vor sich, noch bevor er auf den Auslöser drückte. Es kam ihm falsch vor, das Bild zu machen. Er konnte die Menschen vor der Kamera nicht mehr unterscheiden.
»Es tut mir leid«, sagte er leise zu der Frau. »Sie sind sehr hübsch, aber ich kann Sie nicht fotografieren.«
Das Modell blieb sitzen. Sie sah zu dem Manager der Werbeagentur, dann hörte sie auf zu lächeln. Der Manager begann zu reden, er wurde lauter, er sagte etwas von Bezahlung und Terminen, er drohte mit Schadensersatz und mit Anwälten. Eschburg legte den Apparat vorsichtig in die Holzkiste zurück.
Am Nachmittag ging er in die Alte Nationalgalerie. Das Bild, das er sehen wollte, hing im zweiten Stock. Es war kleiner, als er es in Erinnerung hatte: 1,10 Meter hoch, 1,70 Meter breit, daneben stand auf einem Schild: »Caspar David Friedrich, Mönch am Meer, 1810«. Der Maler hatte das Bild nie signiert, er hatte ihm keine Jahreszahl und keinen Titel gegeben. Die Konstruktion war einfach: Himmel, Meer, Fels. Nichts sonst, keine Häuser, keine Bäume, keine Sträucher. Nur links von der Mitte steht eine winzige Figur mit dem Rücken zum Betrachter, die einzige Vertikale. Friedrich hatte zwei Jahre lang daran gearbeitet, er hatte Depressionen gehabt, während er es malte.
1810 wurde das Bild das erste Mal ausgestellt. Heinrich von Kleist schrieb damals, wenn man es betrachte, sei es, als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären.
16
Sofia und Eschburg verbrachten jetzt jedes Wochenende zusammen. Eschburg sagte ihr, er könne diese Fotos nicht mehr machen. Sie schlug vor, nach Madrid zu fahren, sie wolle ihm dort etwas zeigen. Am Flughafen nahmen sie ein Taxi zum Museum. Sofia hatte hier einmal gelebt, sie zeigte Eschburg die Häuser, in denen sie damals gewohnt hatte, sie nannte fremden Namen, Plätze und Cafés, ihre Stimme wurde dunkel und leise. Sie erzählte, dass sie damals in einen älteren Mann verliebt gewesen war. Die Liebe hatte drei Jahre gedauert, dann war er zu seiner Frau und seinen Kindern zurückgegangen. Sie war nach Paris gezogen und hatte ein anderes Leben begonnen.
Sie betraten den Prado durch den Besuchereingang »Goya«, durchquerten die Säle der italienischen und flämischen Malerei, sie gingen an Bildern von Tizian, Tintoretto und Rubens vorbei direkt auf Goyas Bild der Königsfamilie zu. Rechts, im Raum 36, hingen die beiden Bilder mit der Nummer 72 nebeneinander. Beide zeigten dieselbe junge Frau, sie lag auf einem Sofa. Auf dem linken Bild war sie angezogen, auf dem rechten nackt. Die Schuhspitze der Angezogenen zeigte aus jeder Perspektive auf den Betrachter.
Schüler saßen im Halbkreis vor ihrer Lehrerin auf dem Boden. Einige der Mädchen trugen schon Lippenstift. Die Lehrerin ließ ihre Schüler die Unterschiede der beiden Bilder beschreiben, Sofia übersetzte. Ein Mädchen sagte, die angezogene Frau auf dem Bild sei rot, weil sie sich schäme, aber die Nackte sei blass und schaue niemanden an. Das verstehe sie nicht, es müsste doch umgekehrt sein. Die Lehrerin erklärte, Goya habe »die nackte und die bekleidete Maja« für den Premierminister gemalt. Die Gemälde seien durch einen Klappmechanismus verbunden gewesen, entweder sei die eine oder die andere Seite zu sehen gewesen, also entweder die nackte oder die angezogene Frau. Der Minister habe sie in sein »erotisches Kabinett« gehängt. Später habe die Inquisition die Bilder wegschließen lassen.
Das Mädchen wollte wissen, was ein »erotisches Kabinett« ist, und die Lehrerin versuchte es zu erklären. Sie sagte, die »nackte Maja« sei das erste spanische Bild gewesen, auf dem das Schamhaar einer Frau zu sehen sei. Ein Junge stieß seinem Freund den Ellbogen in die Rippen und grinste. Die Lehrerin sagte etwas zu dem Jungen, was Sofia nicht verstand, und dann grinste der Junge noch mehr und wurde rot und eines der Mädchen mit den geschminkten Lippen sagte, er sei noch immer ein Baby. Die Lehrerin stand auf und ging mit den Schülern in den nächsten Saal.
Für einen kurzen Moment waren Sofia und Eschburg mit den Bildern allein. Sofia sagte, vor »Maja« hätten die Maler nackte Frauen nur als Engel, Nymphen, Göttinnen oder in historischen Szenen gezeigt. Die Männer konnten sie ansehen, ohne sich zu schämen. »Maja ist nicht so. Sie hat große Brüste, eine schmale Taille, rot geschminkte Lippen. Sie weiß, wie schön sie ist, und sie weiß, was sie tut«, sagte sie.
Eschburg dachte an den anderen Mann, der mit
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