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Tabu: Roman (German Edition)

Tabu: Roman (German Edition)

Titel: Tabu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ferdinand von Schirach
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angerufen, ihre Stimme klang jung, vielleicht war sie 16 oder 17   Jahre alt. Sie habe Angst, sagte sie, sie liege in dem Kofferraum eines Autos. Der Mann habe ihr in den Kopf gebissen. Sie nannte den Namen des Verdächtigen und die Straße, in der er wohnte. Und dann sagte sie noch etwas, sehr leise, undeutlich. Die Polizisten glaubten, sie habe flüstern müssen, damit der Entführer sie nicht hören konnte. »Er ist böse« oder »er ist das Böse«, sagte die junge Frau, genau konnte Landau das nicht verstehen. Danach riss die Verbindung ab.
    Nach dem Anruf fuhr eine Streife zu der Adresse, Routineablauf. Die Beamten fanden dort im Hof ein Kleid in der Abfalltonne, es war zerrissen und blutig. Dem Ermittlungsrichter reichte es für einen Durchsuchungsbeschluss. Eine knappe Stunde später klingelten die Kriminalpolizisten an der Tür des Verdächtigen. Der Mann öffnete. Er verhielt sich ruhig.
    Auf dem Boden vor seinem Bett fanden sie Blutspuren. Der Gerichtsmediziner sagte, es sei das Blut derselben Frau, das auch auf dem Kleid aus der Mülltonne war. In einer Kiste unter dem Bett lagen sadistische Pornos, Handschellen, Peitschen, Augenbinden, Mundknebel, Vibratoren und Analketten. Auf den Handschellen und den Peitschen waren Hautschuppen. Auch sie stammten von der unbekannten Frau.
    Im Schrank zwischen den Hemden lag in einer Blechkiste eine vollständige Ausrüstung für eine Obduktion: Skalpelle, Klammern, Schädelspalter, eine elektrische Knochensäge.
    Ein paar Stunden später wussten die Beamten, dass der Verdächtige an dem Tag, an dem die Frau bei der Polizei angerufen hatte, einen Wagen gemietet hatte. Er wurde bei der Autovermietung sichergestellt. Die Polizisten fanden winzige Blutspuren im Kofferraum, es war wieder dieselbe DNA . Der Verdächtige war mit dem Wagen 194   Kilometer gefahren. Die Hubschrauber suchten deshalb in einem Radius von hundert Kilometern um Berlin. Mit Wärmebildkameras flogen sie seit Stunden über die Waldgebiete und Felder rund um Berlin, aber sie alle wussten, wie hilflos sie waren – das Gebiet war einfach zu groß. Acht Hundertschaften waren im Einsatz, die gesamte Berliner Polizei hatte Urlaubssperre.
    Alles an diesem Verfahren ist merkwürdig, dachte Landau. Die Ermittler wussten nicht, wie die junge Frau hieß, sie wussten nicht, wie alt sie war, woher sie kam, wer sie war. Noch gab es keinen Erpresserbrief, keine Forderungen, keine Leiche. Auch der Verdächtige passte nicht in das übliche Raster: Er war wohlhabend und nicht vorbestraft. Geld schied offenbar als Motiv aus. »Leider«, dachte Landau, es hätte die Sache berechenbarer gemacht. Nur die Indizien waren eindeutig. Landau zog ihren Mantel an und fuhr zum Polizeirevier. Sie würden den Verdächtigen noch einmal vernehmen müssen.
    Das Zimmer lag im dritten Stock, ein karger Raum, vier Stühle, ein Schreibtisch, keine Bilder, Neonlicht. Der Verdächtige saß am Fenster, seine rechte Hand war mit einer Handschelle an ein Heizungsrohr gefesselt. Es war seine dritte Vernehmung, bisher hatte er alles abgestritten, aber er hatte noch keinen Anwalt verlangt. Die Schreibkräfte waren nach Hause gegangen, der Polizist würde selbst tippen müssen. Er setzte sich und schaltete den Computer ein.
    »Bisher sind Sie nur vorläufig festgenommen«, sagte der Polizist zu dem Mann. »In ein paar Stunden werden Sie dem Richter vorgeführt, er wird Haftbefehl gegen Sie erlassen. Das hier ist Ihre letzte Chance, sich zu retten. Die Belehrung ist Ihnen noch in Erinnerung? Sie müssen hier auf keine Frage antworten.«
    Die Staatsanwältin sah den Verdächtigen zum ersten Mal. Sie nickte ihm zu. Er reagierte nicht.
    »Wo ist das Mädchen?«, fragte der Polizist.
    »Ich weiß nicht«, antwortete der Mann.
    »Wir müssen doch nicht von vorne anfangen. Wir wissen, dass Sie die Frau entführt haben. Also, hören Sie auf, drumherum zu reden. Was haben Sie mit ihr gemacht? Wo ist sie? Wie heißt sie?«
    »Ich weiß nicht«, wiederholte der Mann.
    »Lebt sie noch? Haben Sie sie irgendwo eingesperrt? Hat sie genug Kleidung? Wasser? Essen? Wissen Sie eigentlich, wie kalt es heute Nacht ist? Minus neun Grad. Sie wird erfrieren, wenn sie irgendwo da draußen ist.«
    Der Polizist hatte noch nichts auf dem Computer geschrieben. Es gab in dem Raum kein Tonband und keine Videokamera.
    Eine Vernehmung, dachte Landau, ist kompliziert. Weshalb soll jemand überhaupt gestehen? Wenn der Täter nur einen Moment nachdenkt, weiß er, dass er damit

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