Tabu: Roman (German Edition)
»Vielen Dank«, sagte sie, »ich will Sie nicht weiter stören.«
Er wartete, bis er wieder ruhig atmen konnte. Er ging durch die Ausstellung, er sah Sofia in der Mitte einer Gruppe von Journalisten stehen und nickte ihr zu.
Draußen war die Luft besser. Er ging langsam durch die Gassen. An einem Renaissancepalast blieb er stehen und lehnte sich gegen die Steinmauern. Dann ging er weiter, hinunter zum Tiber und wieder hinauf in das Viertel Trastevere. Auf der Piazza Santa Maria setzte er sich in ein Straßencafé, er bestellte eine Flasche Wasser und einen Espresso. Plötzlich hörte er alle Stimmen aus dem Café gleichzeitig und gleich laut. Es kam ihm vor, als würde ein Filter in seinem Kopf nicht mehr funktionieren. Es dauerte fast fünf Minuten. Um 23 Uhr schlug die Glocke der Marienkirche. Klar und hell schwebte der Ton über dem Platz.
Eschburg legte Geld auf den Tisch und stand auf. Er ging zurück und wollte den Fluss auf dem Ponte Sisto überqueren, die gelben Lampen in der Kaimauer spiegelten sich im Wasser. Er blieb in der Mitte der Brücke stehen. Er sah nichts und hörte nichts, er dachte nur an die Frau auf der Terrasse. Seine Beine gaben nach, er hielt sich an der Balustrade der Brücke fest. Ein junges Paar machte sich über ihn lustig, sie glaubten, er sei betrunken. Dann sah er Sofia, sie rannte zu ihm, ihr Gesicht schien ihm verschwommen.
»Was ist mit dir?«, fragte sie. Sie war außer Atem. »Ich habe dich überall gesucht. Du bist ganz bleich.«
»Ich … ich habe mich die ganze Zeit geirrt«, sagte er leise.
»Ich verstehe kein Wort«, sagte Sofia. »Ist es wegen der jungen Frau, mit der du auf dem Balkon warst?«
»Ihre Haut, ich habe ihre Haut berührt. Ich dachte, mein Kopf ist offen, mein Gehirn wurde orangerot und salzig.« Er zitterte.
»Sebastian«, sagte sie, »bitte beruhige dich. Komm, wir gehen.«
Er blieb weiter stehen. »Diese Gesichter und Körper … es ist nur die Mitte …«, sagte er.
»Wie bitte?«
»Das schönste Gesicht ist das durchschnittlichste Gesicht. Nichts weiter. Schönheit ist nur Symmetrie. Es ist so lächerlich. Ich bin lächerlich.«
»Aber du bist nicht lächerlich, du …«, sagte sie.
Eschburg unterbrach sie: »… als ich sehr jung war, war ich mit meinem Vater auf der Jagd. Er schoss ein Reh. Es hatte auf der Lichtung gestanden, ruhig und schön und ganz für sich. Er schnitt durch den Bauch des toten Tiers, durch die Haare, die Haut und die dünne Fettschicht. Ich hörte das Geräusch. Das Geräusch, mit dem sich der Körper öffnet. Und ich sah das Blut, Sofia, das ganze Blut.«
Sie wollte ihm die Haare aus dem Gesicht streichen, er schlug ihre Hand weg.
»An diesem Abend hat sich mein Vater in seinem Zimmer getötet«, sagte er.
Sein Gesicht war verzerrt. Er packte sie an ihren Schultern und schüttelte sie. »Verstehst du nicht? Ich habe mich geirrt. Alles war falsch. Schönheit ist keine Wahrheit.«
»Du tust mir weh, hör auf«, sagte Sofia. Sie machte sich los.
»Die Wahrheit ist hässlich, sie riecht nach Blut und nach Kot. Sie ist der aufgeschnittene Körper, der weggeschossene Kopf meines Vaters«, sagte Eschburg.
»Du machst mir Angst, Sebastian«, sagte Sofia.
Das Taschenmesser hatte er vor Jahren in Frankreich gekauft, seitdem trug er es immer bei sich. Der Lack auf dem Holzgriff war längst stumpf, der Schriftzug des Herstellers war kaum noch zu lesen. Er klappte es auf.
»Was machst du da?«, schrie sie und trat einen Schritt zurück.
»Geh«, sagte er leise, »bitte, du musst sofort gehen.«
Er rutschte mit dem Rücken an der Balustrade der Brücke zu Boden. Das Messer schnitt tief in seinen Handrücken.
»Ich habe selbst Angst«, sagte er.
Rot
Um ein Uhr nachts saß Monika Landau noch immer am Schreibtisch in ihrem Dienstzimmer. Sie war 41 Jahre alt, seit sechs Jahren arbeitete sie als Staatsanwältin in der Abteilung für Kapitalverbrechen. Vor ihr lag das Foto der entführten jungen Frau. Seit Stunden wurde es im Fernsehen gezeigt und im Internet verbreitet. Die Polizei hatte das Foto in der Wohnung des Verdächtigen gefunden, er hatte seine Wände mit riesigen Abzügen davon tapeziert. Auf das Bild über seinem Bett hatte er mit seinen Fingern ein rotes Kreuz gemalt. Im Bericht des Gerichtsmediziners stand, es sei nur Tierblut – beruhigt hatte das niemanden.
Vor 64 Stunden hatte alles mit dem Anruf bei der Polizei begonnen. Wie jeder Notruf war er aufgezeichnet worden. Eine Frau hatte
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