Tabu: Roman (German Edition)
dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und der Verfassung von Berlin in Übereinstimmung mit den Gesetzen zum Wohle der Allgemeinheit ausüben und meine Amtspflichten gewissenhaft erfüllen werde; so wahr mir Gott helfe.« Vor zwölf Jahren hatte sie diesen Eid abgelegt. Sie konnte ihn immer noch auswendig. »So wahr mir Gott helfe« – die meisten jüngeren Staatsanwälte ließen diesen Satz weg, das Gesetz stellt es jedem frei. Aber sie hatte ihn gesagt, sie hatte ihn noch: ihren kindlichen Glauben an einen gütigen, ordnenden Gott.
Sie sah in den Innenhof des alten Gebäudes. Es war dunkel, nur in wenigen Zimmern brannte Licht. Sie atmete tief ein, die Luft war so kalt, dass sie in den Lungen schmerzte. Sie schloss das Fenster wieder, setzte sich auf die Heizung, zog einen Schuh aus und massierte ihren Fuß. Seit 26 Stunden hatte sie nicht geschlafen.
Sie dachte an das Verfahren, das sie vor vier Jahren geführt hatte. Ein eifersüchtiger Ehemann hatte seiner Frau kochende Milch über die Brust gekippt, er wollte sie bestrafen. Landau hatte den Mann angeklagt, aber die Frau hatte sich während des Prozesses umgebracht. Nach diesem Fall hatte Landau aufgeben wollen. Aber der Abteilungsleiter hatte ihr diesen Satz gesagt, der furchtbar war und tröstlich und der sie seitdem Tag für Tag begleitete: »Wir gewinnen nicht, wir verlieren nicht, wir tun unsere Arbeit.«
Landau setzte sich mit einem Ruck auf, plötzlich war sie überwach und klar. Sie rannte aus dem Waschraum, den Flur hinunter und stieß die Tür des Vernehmungszimmers auf. Sie hatte den Polizisten und den Verdächtigen 24 Minuten alleine gelassen.
Später saß Landau mit dem Polizisten alleine in der hellen Kantine. Er war einer der erfahrensten Beamten der Berliner Polizei, 15 Jahre älter als Landau. Sie kannte ihn, seit sie in der Abteilung für Kapitalverbrechen arbeitete. Sie wusste, dass er besonnen und zurückhaltend war, er hatte noch nie seine Waffe gezogen, seine Beurteilungen waren tadellos. Warum er es getan habe, hatte sie ihn gefragt. Seitdem schwieg der Polizist. Er zog das Papieretikett von einer Wasserflasche ab, klebte es auf den Tisch und strich es glatt. Er starrte auf das Etikett, aber er sagte nichts.
Endlich begann er zu sprechen. Er erzählte von einem anderen Entführungsfall, 18 Jahre sei das jetzt her.
»Ich erinnere mich noch immer an jede Einzelheit«, sagte der Polizist, ohne Landau anzusehen. »Ich erinnere mich an das Goldkettchen am Handgelenk des Mannes, an den losen Knopf an seinem Hemd, an seine dünnen Lippen und die Art, wie er auf dem Tisch mit den Fingern trommelte. Nach zwei Tagen war er so weit, er zeigte uns die Stelle im Wald. Ich saß neben ihm, als wir in den Wald fuhren. Er roch ungewaschen, hatte Speichel in den Mundwinkeln und hustete. Er grinste, aber ich musste trotzdem freundlich zu ihm sein. ›Zwölf Tage vor Weihnachten‹ , an diesen Satz dachte ich auf der Fahrt immer wieder. Es war ungefähr so kalt wie heute. Als wir ankamen, sah ein Kollege das Belüftungsrohr und rannte los. Er zog sich noch im Laufen seine Jacke aus. Er riss die Blätter von dem Rohr, er schrie, dass jetzt alles gut werde. Wir alle fielen vor dem Rohr auf die Knie und gruben wie verrückt in dem Schnee und dem gefrorenen Boden. Ein Kollege brach die Kiste auf. Im Holz des Deckels sah ich die Kratzspuren des kleinen Jungen. Auf seinem Unterarm klebte ein rotes Abziehbild, irgendein Tier, ein Elefant oder ein Nashorn oder etwas anderes. Das Bild war ausgefranst und verwaschen, es sah ganz unwirklich aus auf der blauweißen Haut.«
Der Polizist hob den Kopf und sah Landau direkt an. »Wissen Sie, es ist dieses verfluchte Abziehbild. Ich werde es nicht mehr los. Verstehen Sie das? Ich werde es einfach nicht mehr los.«
Am Nachmittag dieses Tages schrieb Staatsanwältin Landau in ihrem Dienstzimmer einen Vermerk. Es war kein langer Text, zwölf Zeilen. Sie las ihn noch zweimal, unterschrieb und heftete das Blatt zu den Akten. Dann ging sie zu ihrer Geschäftsstelle und bat darum, den Vermerk dem Vernehmungsbeamten zu faxen.
»In welcher Sache?«, fragte die Sekretärin.
»Das neue Verfahren, die Akte liegt in meinem Zimmer«, sagte Landau. »Der Beschuldigte heißt Sebastian von Eschburg.«
Blau
1
Konrad Biegler stand auf der Terrasse des Zirmerhofs und war schlecht gelaunt. Er hörte dem Bergführer zu. Der Bergführer sah so aus, wie Biegler sich einen Bergführer vorstellte: braun
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