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Tabu: Roman (German Edition)

Tabu: Roman (German Edition)

Titel: Tabu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ferdinand von Schirach
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gebrannt, groß, gesund. Er riecht bestimmt nach Seife, dachte Biegler. Der Bergführer hatte eine feste Stimme mit einem leichten italienischen Akzent, es klang angenehm. »Fast 1600   Meter hoch« liege die Terrasse des Hotels, »der Panoramablick« sei »einmalig«, »rund einhundert Gipfel«, die »das Herz höherschlagen« ließen. Hier oben gebe es »herrliche Wiesen« und »idyllische Bergseen«.
    Der Bergführer sagte noch viele solche Sachen. Er trug eine rote Jacke aus Polyester mit Kapuze und einem Fuchs auf der Brust. »Funktionskleidung«, dachte Biegler. Der Bergführer nannte die Gebirgszüge: »Brenta, Ortler, Ötztaler, Stubaier«. Biegler war sich sicher, dass der Bergführer alle bestiegen hatte.
    Eine Frau mit sehr kleinem Rucksack sagte leise, der Zirmerhof liege so hoch wie die Schneekoppe. Ihre Augen glänzten, während sie den Bergführer ansah. »Nur ohne Schnee«, sagte Biegler und knöpfte seinen Mantel zu.
    Biegler war seit 31   Jahren Strafverteidiger in Berlin. Er hatte eine Gras-, Heu-, Hunde-, Katzen- und Pferdeallergie. Er dachte darüber nach, ob er etwas sagen sollte. Die Deutschen stellen die Natur über den Menschen , wäre so ein Satz gewesen. Aber er sagte nichts. Es ging ihn nichts an. Er würde ja nicht auf dem Berg leben müssen, irgendwann könnte er hier weg und zurück nach Berlin fahren. Die Stadt ist die richtige Umgebung für einen Menschen, dachte er. Biegler riss sich zusammen. »Entspannen Sie sich«, hatte der Arzt gesagt.
    Vor vier Wochen nach einem Prozesstag war Biegler auf dem Gerichtsflur in Moabit umgefallen, einfach so. Er war mit der Stirn auf eine Steinbrüstung geschlagen und zu Boden gerutscht. Der Arzt hatte ihn in eine Klinik geschickt. Mit anderen »Burn-out«-Patienten hatte er dort im Kreis gesessen, sie hatten sich bunte Wollkugeln zugeworfen, nachmittags hatte er Figuren aus Papier ausschneiden sollen. Biegler hatte sich nach zwei Tagen selbst entlassen.
    Dann »wenigstens in die Berge«, darauf hatte der Arzt bestanden, am besten nach Südtirol. Der Arzt hatte ihm aus einem Prospekt vorgelesen: Auf dem Zirmerhof werde Ruhe nicht nur als »Nicht-Lärm« verstanden, sondern als »innere Qualität«, als »Lebenshaltung«. In diesem Berghotel, so der Arzt, hätten sich schon viele erholt: Heisenberg, Planck, Feltrinelli, Trott zu Solz, Siemens und eine ganze Reihe von Schriftstellern und Künstlern. Eugen Roth habe sogar ein Gedicht über das Hotel geschrieben. Biegler hatte ein Zimmer buchen lassen.
    Die Hotelgäste verließen jetzt mit dem Bergführer die Terrasse. Biegler stand auf und bog seinen Rücken durch. Alle Stühle auf dem Zirmerhof waren unbequem, und er überlegte, ob dahinter ein Plan stand. Die anderen Gäste – die meisten waren Wanderer – hielten es für weichlich, sich auf die Filzunterlagen zu setzen. Biegler nahm immer zwei davon.
    Er zog aus der Tasche seines Mantels ein Buch. Lesen hatte der Arzt nicht verboten. Biegler schlug es auf. Er war schon seit vier Tagen hier, aber er konnte sich immer noch nicht konzentrieren. Das Buch hieß »Positives Denken für Manager«. Seine Sekretärin hatte es ihm zum Abschied geschenkt, es würde ihm guttun, hatte sie gesagt. Biegler besaß inzwischen eine Fülle solcher Bücher: »Im Einklang mit dem Universum fühlen, denken und handeln«, »Die Macht der guten Gefühle«, »Bewusster leben mit 30   Motivationskarten und Onlinematerialien«, »Sympathisch in sieben Schritten« und schließlich Bieglers Lieblingsbuch: »Positiv denken – erfolgreich spazieren gehen: Mit Mentaltraining zum persönlichen Sieg«. Die Sekretärin war jetzt in Rente gegangen und die Neue hatte er bisher nur einmal gesehen.
    Auch Bieglers Frau Elly verzweifelte an seiner schlechten Laune. Sie waren seit 28   Jahren verheiratet. Elly glaubte, Bieglers Grantigkeit komme von seinem Beruf, von den Mordverfahren, in denen er verteidigte. Aber das stimmte nicht. Biegler fand positives Denken schlicht dumm. In seiner Kanzlei hatte er versucht, es den jungen Anwälten zu verbieten. Gut gelaunte Menschen hielt er für kindisch oder bösartig.
    Vor der Terrasse mähte ein Bauer die Wiese. Der Traktor war schön, aber sein Auspuff war defekt. Biegler glaubte, dass auch der Bauer defekt war – er mähte jeden Tag dasselbe Stück Wiese. Er probierte die Sache mit dem positiven Denken und grüßte den Bauern höflich. Der Bauer starrte ihn an. Biegler nickte zufrieden.
    Er ging ein paar Schritte. Um das Hotel

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