Tabu: Roman (German Edition)
verlieren wird. Ein Mensch gesteht nur dann ein Verbrechen, wenn er dafür etwas bekommt – vielleicht hofft er auf eine Strafe, die weniger hart ist, oder er glaubt an eine Gewissenserleichterung, an einen ruhigen Schlaf ohne Dämonen. Manchmal will er auch nur die Anerkennung des Beamten, der ihn vernimmt. Landau glaubte, allein die Kindheit, das Gute, das jemand erfahren hat, kann am Ende zu einem Geständnis führen. Sie hatte viele Vernehmungen geführt, sie wusste, wie schwer es ist, die Wahrheit zu sagen.
Der Polizist sagte zu dem Mann, dass er sich nie wieder im Spiegel ansehen könne, Nacht für Nacht würde ihm die junge Frau erscheinen, sie würde ihn sein ganzes Leben lang verfolgen. Es sei schlimm, was er getan habe, aber er könne noch umkehren. Jeder Richter werde milder mit ihm sein, wenn er jetzt spreche, wenn er alles erzähle und das Mädchen noch rette. Der Polizist redete leise auf ihn ein, monoton, er wiederholte seine Sätze immer wieder.
Landau wusste, dass der Polizist Bilder erzeugen musste, Bilder, die den Verdächtigen erschrecken sollten. Aber es schien nicht zu funktionieren. Der Mann sah nur zu Boden oder aus dem Fenster, aber er reagierte nicht.
Die Vernehmung hatte über drei Stunden gedauert, als es passierte. »Ich habe selbst zwei Töchter«, sagte der Polizist, »sie sind zwölf und vierzehn Jahre alt.« Die Stimme des Polizisten hatte sich verändert, er sprach sehr leise.
Landau fuhr zusammen. Sie verstand nicht, was der Polizist tat. Natürlich, ein kluger Beamter gibt in der Vernehmung die Macht ab, er muss erreichen, dass der Verbrecher ihm vertraut. Wenn der Vernehmende wütend wird oder entsetzt ist oder wenn er nur einen Moment vergisst, dass der andere ein Mensch ist, ist die Vernehmung verdorben. Ein Polizist kann dabei sehr weit gehen, er kann vieles riskieren. Landau hatte Vernehmungen erlebt, in denen sie fast glaubte, es würde so etwas wie Freundschaft zwischen dem Polizisten und dem Täter entstehen. Aber, dachte sie jetzt, kein Ermittlungsbeamter spricht über sein Privatleben, es ist zu gefährlich.
Der Polizist stand auf, nahm seinen Stuhl an der Rückenlehne und trug ihn um den Tisch. Es war ein Metallstuhl, er knallte ihn direkt vor den Verdächtigen auf den Boden. Dann drehte er sich kurz zu Landau und hob die Schultern. Es sah aus wie eine Entschuldigung, aber Landau wusste nicht, was das heißen sollte.
Der Polizist setzte sich. Der Verdächtige hob den Kopf, er sah den Polizisten an. Der Polizist beugte sich vor. Sein Gesicht war vom Gesicht des Mannes keine dreißig Zentimeter entfernt.
»Du hast es so gewollt«, sagte der Polizist. »Ich werde es dir zuerst erklären. Du sollst genau verstehen, was ich mit dir machen werde.«
Landau wurde klar, dass die Situation entgleiste. Später dachte sie oft an diesen Moment. Sie fragte sich dann, ob sie es hätte verhindern können. Aber sie kam immer wieder zu dem gleichen Schluss: Sie hatte es nicht verhindern wollen.
»Heute«, sagte der Polizist, »macht man es nicht mehr mit Elektroschocks an den Hoden oder mit Messern oder mit Schlägen. Das gibt es nur noch in Hollywood. Alles, was ich brauche, ist ein Küchenhandtuch und ein Eimer Wasser. Es geht schnell. Wir sind hier alleine, du Schwein, die anderen sind draußen und suchen das Mädchen. Später wird dir niemand glauben, was passiert ist. Du wirst keine Verletzungen haben, keine Narben, du wirst nicht bluten, alles passiert in deinem Gehirn. Natürlich wirst du später einen Arzt rufen, aber der wird nichts feststellen. Mein Wort wird gegen deines stehen. Du brauchst gar nicht darüber nachzudenken, wem der Richter glaubt. Du bist ein Vergewaltiger und jetzt wirst du dafür bezahlen. Was ich mit dir mache, hält niemand länger als dreißig Sekunden aus, die meisten geben schon nach drei oder vier Sekunden auf. Du wirst …«
In diesem Moment schaffte es Landau. Sie stand auf. Ohne ein Wort zu sagen, verließ sie das Zimmer. Sie ging den hell erleuchteten Flur hinunter bis zu den Toilettenräumen. Sie schloss die Tür hinter sich und lehnte sich dagegen. Es roch nach Chlor und Flüssigseife. Als sie sich beruhigt hatte, stellte sie ihre Handtasche auf die Ablage und wusch sich das Gesicht, sie beugte sich über das Waschbecken und ließ das kalte Wasser über ihren Nacken laufen. Sie faltete ein Papierhandtuch, machte es nass und presste es auf ihre Augen. Dann ging sie zum Fenster und öffnete es.
»Ich schwöre, dass ich mein Amt getreu
Weitere Kostenlose Bücher