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Tabu: Roman (German Edition)

Tabu: Roman (German Edition)

Titel: Tabu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ferdinand von Schirach
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herum standen über fünfzig Bänke aus Lärchenbrettern. Als Gast des Zirmerhofs konnte man diese Bänke kaufen und vom Dorfschreiner seinen Namen einbrennen lassen. Nacheinander probierte Biegler sie aus. Sie standen immer so, dass er gezwungen war, die »idyllischen Motive« anzusehen: Berge, Wiesen, Bäume, Feldwege, Felsbrocken. Bieglers Laune wurde mit jeder Bank schlechter.
    Er wollte Elly nicht enttäuschen. Er ging auf sein Zimmer, das nicht größer war als der Besprechungstisch in seiner Kanzlei. Er dachte kurz daran, den Wirt doch noch zu rufen. Er könnte ihm sagen, dass die Rechtsprechung von Missachtung der Menschenwürde spreche, wenn eine Gefängniszelle kleiner als zwölf Quadratmeter ist. Er tat es nicht, weil er sich ja erholen sollte. Elly hatte ihm Wanderschuhe gekauft, sie hatten eine rote Sohle. Biegler schüttelte den Kopf und zog sie an.
    Hinter dem Hotel führte ein schmaler Weg in den Wald. Das Unterholz roch modrig, Kleinstlebewesen saßen auf den Baumstämmen, immer bereit, ihn anzuspringen. Er schwitzte. Kühe standen auf einer großen Lichtung, sie gehörten zum Hotel. Der Wirt hatte gesagt, sie seien gutmütig. Biegler traute dem Wirt nicht und hielt Abstand. Die Kühe hatten riesige Glocken um den Hals, von denen sie taub werden mussten. Er beobachtete sie so lange, bis er sich ganz sicher war, dass Kühe keinerlei Bewusstsein besitzen.
    Biegler drehte um und ging zurück ins Hotel. Er duschte und legte sich auf das Bett. Zwanzig Minuten später begannen unter seinem Fenster Bauarbeiten für eine neue Außentreppe. Die Bauarbeiter hörten Radio. Er öffnete das Fenster und steckte sich einen Zigarillo an. Ein Zimmermädchen klopfte und verwarnte ihn: Rauchen sei in den Zimmern verboten, sagte sie, man könne es bis auf den Flur riechen.
    Zwei Stunden später wurde mit einer Kuhglocke zum Abendessen geläutet.
    Im Speisesaal saß am Nebentisch ein Mann mit kurzen Lederhosen. Der Mann bewegte sich ruckartig. Er hatte einen vergilbten Hund, den er »Wolf« nannte. Die Frau des Mannes hatte kurze Haare und ein massives Gesicht mit Hängebacken. Als Biegler sah, dass der Mann ein riesiges Messer mit Hirschhorngriff in seiner Hose trug, bat er um einen anderen Platz.
    Er wurde an den Tisch eines Lehrerehepaars aus Stuttgart gesetzt. Das Paar sprach über die heutige Wanderung, sie redeten sich mit Kosenamen an. Biegler schwieg. Es gab »gebackene Käsenockerln in Tomatenbutter«. Die Kellnerin streute Parmesan darauf. Biegler war sich nicht sicher, ob er das essen konnte.
    Der Lehrer fragte Biegler, ob er heute auch gewandert sei.
    »Ja«, sagte Biegler.
    »Sie müssen unbedingt auf das Weißhorn. Eine herrliche Aussicht«, sagte die Frau, die von ihrem Mann »Schätzle« genannt wurde.
    »Ja«, sagte Biegler noch einmal. Das Fett der Käsenockerln spritzte auf sein Hemd.
    »Oder gehen Sie doch in die Bletterbachschlucht. Sie ist von der UNESCO zum ›Weltnaturerbe‹ ernannt worden. Dort können Sie Millionen Jahre alte Steinschichten sehen, es ist phantastisch.«
    Biegler antwortete nicht, aber Schätzle gab nicht auf. »Sie sind noch nicht lange hier, oder?«
    »Vier Tage«, sagte Biegler. Er fragte die Kellnerin nach Brot, trockenem Brot.
    »Sie können an der Rezeption eine Wanderkarte bekommen«, sagte der Mann. »Ist hilfreich beim ersten Mal.«
    »Danke«, sagte Biegler.
    »Was haben Sie bisher denn gesehen?«, fragte Schätzle.
    »Den Friedhof im Dorf. Mir gefallen die Emaillebilder der Toten, sie wirken so lebendig«, sagte Biegler.
    »Ach ja?« Schätzle klang verunsichert. »Wollen Sie sich vielleicht uns anschließen? Wir gehen morgen auf den Pass.« Sie lächelte ihn an. Sie war ungeschminkt und hatte eine gesunde rosa Haut.
    »Nein«, sagte Biegler.
    »Wollen Sie denn nicht wandern?«, fragte der Lehrer. Seine Brille war vom Dampf des Essens beschlagen.
    »Nein.«
    Die beiden starrten ihn an. In solchen Momenten rettete Elly die Situation. Aber Elly war nicht da. Biegler legte sein Besteck zur Seite. »Warum mögen Sie die Natur?«, fragte er.
    »Was ist das denn für eine Frage?«, sagte der Lehrer und lachte. »Jeder liebt die Natur.«
    »Ich nicht«, sagte Biegler. »Außerdem beantwortet das die Frage nicht.«
    »Warum ich die Natur liebe …?«, fragte der Lehrer.
    »… Wir brauchen die Natur, aber die Natur braucht uns nicht«, sagte Schätzle. Sie sagte es streng.
    »Sie klingen wie ein Autoaufkleber«, sagte Biegler.
    »Warten Sie … ich kenne Sie irgendwoher«,

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