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Tabu: Roman (German Edition)

Tabu: Roman (German Edition)

Titel: Tabu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ferdinand von Schirach
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sagte der Lehrer. Er hatte sich wieder gefangen. »Jetzt weiß ich es, ich habe Sie im Fernsehen gesehen. Sie haben diesen Mörder in Köln verteidigt, der seine ganze Familie umgebracht hat.«
    »Nein«, log Biegler. Er hatte keine Lust auf diese Wendung des Gesprächs. »Ich habe immer noch nicht verstanden, warum Sie die Natur mögen.«
    »Es ist so schön und erholsam zu wandern«, sagte Schätzle. »Und …«
    »… und die Natur ist viel klüger als wir«, sagte der Lehrer.
    »Unsinn«, sagte Biegler. »Denken Sie an die Aale.«
    »An die Aale?«, fragte Schätzle und verzog ihr Gesicht. Sie schien Aale nicht zu mögen.
    »Aale sind perfekt, um die Natur zu verstehen«, sagte Biegler. »Es ist so: Jeder Aal, den Sie irgendwo in Europa sehen, ist im Atlantik bei den Bahamas geboren, in der Sargassosee. Die Larven schwimmen von dort aus nach Europa. Sie brauchen ungefähr drei Jahre. Verstehen Sie? Drei Jahre tun sie nichts anderes, als durch das Meer zu schwimmen. An der Küste werden sie größer, schwimmen die Flüsse hinauf, schlängeln sich über feuchte Wiesen und leben schließlich die nächsten zwanzig Jahre in irgendeinem Gewässer. Das wäre ja schon Irrsinn genug. Aber dann wird die Sache widerlich: Der Aal hört auf zu fressen. Und er verändert sich: Seine Augen werden größer, sein Magen und sein After verschwinden und in ihm bilden sich riesige Geschlechtsorgane. Glauben Sie mir, sie sind wirklich riesig, sie füllen den Aal aus, man könnte sogar sagen, der ganze Aal ist jetzt ein einziges Geschlechtsorgan. Und was macht er?«
    Das Lehrerehepaar starrte Biegler an.
    »Er muss zurück«, sagte Biegler. »5000   Kilometer wieder über Wiesen, Flüsse, Meere zurück in die Sargassosee. Endlich, halb tot vor Erschöpfung, kommt er an. Die anderen Aale sind schon da. Er taucht einen halben Kilometer tief, hat das eine Mal in seinem Leben Sex – natürlich im Dunkeln – und stirbt.« Biegler schob seinen Teller zur Seite. Er wartete einen Moment.
    »Ich will Ihnen damit nur sagen, dass ich nicht glaube, dass sich die Natur bei den Aalen irgendetwas Vernünftiges überlegt hat. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass sich die Natur überhaupt noch nie etwas überlegt hat. Die Natur denkt nicht, sie ist feindlich, bestenfalls gleichgültig. Um also Ihre Frage zu beantworten: Vielen Dank für die Einladung, aber ich werde auf keinen Fall auf irgendwelche Berge steigen oder mir Millionen Jahre alte Steinschichten ansehen.«
    Biegler stand auf, nickte dem Ehepaar zu und ging auf sein Zimmer.
    Draußen war es noch hell. Die Wiese vor seinem Fenster fiel steil ab, bis zu einem Teich in einer Senke. Eine Ente schwamm dort langsam im Kreis herum, das Wasser war schwarz. Er hörte eine Mücke hinter seinem Ohr, schloss das Fenster und klemmte sich den Daumen ein.
    In dem winzigen Zimmer wurde es schnell stickig, aus der Plastikdusche roch es nach Putzmitteln. Er suchte die Mücke, fand sie nicht, duschte, zog seinen Schlafanzug an und legte sich ins Bett. In dem Hotelprospekt las er, den Gästen würde ein »Alm-Heubad« für »Frische und Wohlgefühl« angeboten. Biegler dachte an seine Heuallergie. Er überlegte, ob Elly ihm glauben würde, wenn er eine Allergie gegen Bergluft behauptete.
    Biegler schloss die Augen. Er sah sich mit dem Lederhosenmann, der massiven Frau und dem Lehrerehepaar im Morgentau nackt über die frisch gemähte Wiese hüpfen. Dann schlief er ein.

2
    Biegler wachte vom Motor eines Lieferwagens auf. Er hatte nachts das Fenster wieder geöffnet, jetzt roch es im Zimmer nach Diesel. Er sah auf seine Uhr, es war kurz vor sechs. Er versuchte wieder einzuschlafen. Ein paar Minuten später läuteten die Glocken der Kirche zur Frühmesse. Biegler stöhnte und setzte sich auf. Er nahm den Mantel vom Haken, zog ihn über den Pyjama und ging in seinen Hausschuhen nach draußen.
    Es war kühl. Er zündete sich einen Zigarillo an. Um diese Zeit saß Elly schon in ihrem Wintergarten und frühstückte. Sie würde um acht in ihre Praxis gehen. Er rief sie an.
    »Mir ist langweilig«, sagte er.
    »Gefällt es dir gar nicht?«
    »Ein Zauberberg für Oberstudienräte.«
    »Warst du wandern?«
    »Jeden Tag. Ich bin schon völlig erholt. Eigentlich könnte ich zurückfahren.«
    »Du solltest noch dort bleiben, Biegler«, sagte Elly. Sie sagte es sanft. Elly nannte ihn immer nur »Biegler«.
    »Weißt du, das Essen hier ist furchtbar. Ich habe dauernd Magenschmerzen«, sagte Biegler.
    »Mindestens

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