Tabu: Roman (German Edition)
Eschburg vor und bat darum, den Mandanten zu sprechen. Die Beamtin telefonierte, dann fragte sie Biegler, ob er sich im Urlaub erholt habe. Biegler antwortete nicht.
Eschburg sei zurzeit der prominenteste Gefangene, sagte die Beamtin. Ganz ruhig sei er, meistens liege er auf dem Bett in der Zelle, zu Aufsehern und Mitgefangenen sei er höflich. Er verzichte auf den Hofgang. Er habe sich bisher über nichts beschwert und er habe keinerlei Sonderbehandlung verlangt.
»Das klingt doch angenehm«, sagte Biegler.
»Irgendetwas ist seltsam an ihm«, sagte die Beamtin.
»Was?«, fragte Biegler.
»Ich weiß auch nicht«, sagte die Beamtin. »Es ist nur so ein Gefühl.«
»Ein Gefühl also«, sagte Biegler. Die Beamtin nickte.
Nach ein paar Minuten kam Eschburg. Biegler nahm ihn mit in eine der Anwaltssprechzellen.
»Rauchen Sie?«, fragte Biegler.
»Ich habe es mir hier abgewöhnt«, sagte Eschburg.
Biegler steckte seine Zigarillos wieder ein. »Rauchen ist in den Sprechzellen ohnehin verboten. Sie haben mich gebeten, Ihre Verteidigung zu übernehmen.«
»Ja.«
»Sie haben schon einen Pflichtverteidiger.«
»Aber jetzt brauche ich Sie«, sagte Eschburg.
»Weshalb?«
»Jeder da draußen hält mich für einen Mörder.«
»Na ja, Sie haben ein Geständnis abgelegt«, sagte Biegler.
»Ja.«
»Und Sie haben es unterschrieben.«
»Ja. Aber es war erzwungen.«
»Wollen Sie damit sagen, dass es nicht stimmt?«, fragte Biegler.
»Ich möchte, dass Sie mich so verteidigen, als sei ich nicht der Mörder.«
»Als seien Sie nicht der Mörder? Verstehe ich das richtig? Sind Sie einer oder sind Sie keiner?«, fragte Biegler.
»Ist das wichtig?«
Es war eine gute Frage. Biegler hatte sie noch nie von einem Mandanten gehört. Journalisten stellen solche Fragen, Studenten oder Referendare, dachte er. »Für die Verteidigung ist es nicht wichtig, wenn Sie das meinen«, sagte Biegler.
»Und für Sie persönlich?«
»Bei einer Verteidigung geht es nur um die Verteidigung.«
»Das ist der Grund, weshalb ich Sie als Anwalt möchte. Nicht alle haben diese Einstellung.« Eschburg wirkte völlig ruhig. »Haben Sie die Akte gelesen?«, fragte er.
»Ich habe schon Schlimmeres gesehen«, sagte Biegler.
»Wie würden Sie mich verteidigen?«
Biegler sah Eschburg an. »Wenn man einen Freispruch von einer Mordanklage will, gibt es sechs Möglichkeiten. Erstens: Es war richtig zu töten – kommt selten vor. Zweitens: Es war Notwehr. Drittens: Es war ein Unfall. Viertens: Sie wussten nicht, was Sie taten, oder Sie konnten das Unrecht Ihres Handelns nicht einsehen. Fünftens: Sie waren es nicht, ein anderer hat’s getan. Und – ebenfalls sehr selten – sechstens: Es gibt gar keinen Mord. Spielen wir es einmal durch: Notwehr, Unfall und Schuldunfähigkeit lassen wir vorerst beiseite. Beginnen wir mit dem Alternativtäter. Wer, wenn nicht Sie, könnte der Täter sein?«
Eschburg überlegte eine Weile. »Niemand.«
»Haben Sie keine Nachbarn?«, fragte Biegler.
»Doch, eine Frau, Senja Finks«, sagte Eschburg.
»Wer ist das?«
Eschburg erzählte, was er von ihr wusste, auch von dem Messerangriff und ihren Verletzungen.
»Gut«, sagte Biegler. Er schrieb alles in sein Notizbuch. »Darüber kann man nachdenken. Kommen wir zur letzten Verteidigungsmöglichkeit. Sie ist hier die interessanteste: Es gibt keinen Mord.«
»Ich habe doch gestanden.«
»Ja, das haben Sie.«
»Aber?«, fragte Eschburg.
»Die Staatsanwaltschaft wird alles versuchen, damit das Geständnis bei Gericht durchgeht. Aber ich vermute, das Schwurgericht wird es nicht verwerten wollen. Wenn das so ist, werden die Richter prüfen müssen, ob die anderen Indizien ausreichen. Dazu gibt es offene Fragen. Die zwei wichtigsten: Wer war die Frau? Und wo ist ihre Leiche? Ihr Geständnis bricht an diesem Punkt ab.«
»Muss ich die Fragen des Gerichts beantworten?«
»Nein.« Biegler schlug die Akte auf. »Hier, Ihr letzter Satz: ›Ich habe die Leiche verschwinden lassen. Ich habe sie aufgelöst.‹ Das ist das Ende der Vernehmung.« Biegler drehte die Akte zu Eschburg und zeigte ihm die Stelle.
»Ich erinnere mich«, sagte Eschburg.
»Wie haben Sie es gemacht?«
»Was?«
»Die Sache mit dem Verschwinden? Wie Houdini, der Zauberer?«
»Mit Chemikalien.«
»Aha.«
»Als Fotograf habe ich Zugang dazu.«
»Und weiter?«
»Ich habe die Leiche in ein Salzsäurebad gelegt. Sie hat sich aufgelöst«, sagte Eschburg.
Biegler zog die Akte wieder zu sich und
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