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Tabu: Roman (German Edition)

Tabu: Roman (German Edition)

Titel: Tabu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ferdinand von Schirach
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legte sie zurück in seine Tasche. Er stand auf. »Ich glaube nicht, dass ich Sie verteidigen werde.«
    »Weshalb?«
    Endlich, dachte Biegler, zum ersten Mal reagiert er. »Weil ich Ihnen nicht glaube. Natürlich müssen Sie mir nicht die Wahrheit sagen, Sie können alles abstreiten. Sie können schweigen, Sie können sogar verschiedene Versionen einer Geschichte an mir ausprobieren. Lügen sind in Ordnung. Aber eines kann ich nicht ausstehen: wenn Mandanten etwas gestehen, was sie nicht getan haben.«
    »Ich verstehe nicht«, sagte Eschburg.
    »Leichen in Salzsäure – das gehört in einen Kriminalroman. Es funktioniert nicht, jedenfalls nicht besonders gut. Selbst nach vielen Tagen in einem Salzsäurebad löst sich ein Körper nicht richtig auf. Die Brühe wird gelblich, es bleiben organische Klumpen zurück. Von Zähnen und Knochen ganz zu schweigen.«
    »Und was ist mit diesem Fall in Belgien, der Pastor?«, fragte Eschburg.
    »Sie haben sich erkundigt? Interessant. Sie meinen András Pándy, den Ungarn«, sagte Biegler, während er sich den Mantel anzog. »Richtig, Pándy tötete vier seiner acht Kinder. Aber er nahm keine Salzsäure, er benutzte einen Rohrreiniger. Damals konnte man den in jeder Drogerie kaufen. Pándys Tochter hat die Taten gestanden. Sie war übrigens auch ziemlich unangenehm, hat ihre Mutter erschossen, um ungestört mit ihrem Vater schlafen zu können.«
    Biegler ging im Mantel in der Zelle auf und ab. Er hatte die Hände auf dem Rücken. Manchmal hielt er so Gastvorträge an der Polizeihochschule.
    »Die junge Frau hat jedenfalls behauptet, die Leichen zerteilt, in Rohrreiniger eingelegt und dann das Ganze durch den Abfluss gespült zu haben. Niemand hat es geglaubt. Der belgische Untersuchungsrichter wollte die Sache überprüfen. Meines Wissens war es das einzige Mal, dass so ein Vorgang wissenschaftlich untersucht wurde.«
    »Funktionierte es?«
    »Im Experiment wurden zuerst Schweineköpfe zerstückelt und in diesen Abflussreiniger gelegt. Es war erstaunlich, sie lösten sich tatsächlich innerhalb von 24   Stunden vollständig auf, samt Zähnen, Haaren und Knochen. Danach probierte man es mit menschlichen Leichenteilen, es war eine ziemliche Sauerei. Ethisch auch nicht unbedenklich, ich habe dazu einen Artikel veröffentlicht. Der Versuch mit den Leichen ging aus wie der Versuch mit den Schweinen: Alles löste sich perfekt und rasend schnell auf. Der Rohrreiniger kam aus England, er hieß Cleanest.« Biegler lächelte. »Irgendwie ein passender Name, finden Sie nicht?«
    Er blieb neben Eschburg stehen und beugte sich vor. »Aber das war 1998, vor vierzehn Jahren. Als das Experiment öffentlich bekannt wurde, änderte der Hersteller von Cleanest die Zusammensetzung des Reinigers. Und: Salzsäure war nie ein Bestandteil.«
    Biegler fand es beunruhigend, wie sehr sein eigener Eindruck von den Beschreibungen Eschburgs in den Akten abwich. Der junge Mann war nicht kalt. Es war etwas anderes: Eschburg schien auf etwas zu warten, aber Biegler wusste nicht, was es war. »Machen Sie sich also nichts vor«, sagte Biegler, »Sie wären vermutlich noch nicht einmal in der Lage, eine Leiche zu zerteilen. Schon das ist alles andere als leicht. Ich muss jetzt gehen.«
    »Bleiben Sie bitte noch einen Moment«, sagte Eschburg. Er zog einen Zeitungsausschnitt aus seiner Jacke und legte ihn auf den Tisch. Biegler nahm das Papier. Es war ein Artikel über ihn. Damals hatte er in einem Vergewaltigungsfall verteidigt.
    »Ja und? Es gibt bekanntere Anwälte«, sagte er.
    »Darum geht es mir nicht. Sie haben in diesem Interview gesagt, Wahrheit und Wirklichkeit seien ganz verschiedene Dinge, so wie Recht und Moral sich unterscheiden würden. Haben Sie das nur gesagt, weil es gut klingt?« Wie die meisten Gefangenen war Eschburg bleich. Er trug eine schwarze Kaschmirjacke und einen schwarzen Rollkragenpulli. Sie verstärkten seine Blässe noch.
    »Hier steht, dass Sie eigentlich Musiker werden wollten. Sie hätten dann aber das Jurastudium begonnen.« Eschburg las vor: »›Das Gericht ist die letzte wichtige Institution, die sich mit Wahrheit beschäftigt‹  – genau deshalb will ich, dass Sie mich verteidigen.«
    »Das ist sehr lange her«, sagte Biegler. »Sie sind angeklagt, einen Menschen getötet zu haben. Sie sollten sich ausschließlich Gedanken um sich selbst machen.«
    »Das tue ich ja«, sagte Eschburg. »Werden Sie mich verteidigen?«
    »Weil Wirklichkeit und Wahrheit verschiedene Dinge

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