Tabu: Roman (German Edition)
Das Leitungswasser auf der Rechnung hieß »Zirmerhofwasser« und kostete zwei Euro pro Krug. Biegler ärgerte sich furchtbar, er zitierte Montaignes Reiseberichte über Gastwirte, er sagte, schon damals seien sie Halsabschneider gewesen.
Er war froh, als er in seinem Wagen saß. Auf dem halben Weg ins Tal hielt er an. Er stieg aus und ging auf einem Schotterweg durch die Apfelgärten. Nach einiger Zeit zog er sein Jackett aus und trug es über dem Arm. Er riss einen Apfel von einem Zweig und aß ihn, mit einem Taschentuch wischte er über seinen Nacken. Zwei Stunden später war er vom Wandern müde, er setzte sich auf einen Stein. Es war windstill, seine Schuhe waren staubig. Biegler wurde ganz ruhig. Er dachte an seinen sechzigsten Geburtstag letztes Jahr. Ein Bekannter hatte ihm ein Rohr aus Stahl geschenkt, er hatte gesagt, es könne sogar einen Atomkrieg überstehen. »Legen Sie die Sachen rein, die Sie überdauern sollen, und vergraben Sie es in Ihrem Garten.« Das Rohr hatte eine Woche auf Bieglers Schreibtisch gelegen, dann hatte er es weggeschmissen.
Auf der Fahrt über den Brenner hörte er Jazz. Bill Evans: »Explorations«, Dave Brubeck: »Time Out«, Herbie Hancock: »The New Standard«. Mit 17 hatte er selbst Musiker werden wollen. Er war damals in Clubs aufgetreten, er hatte Jazztrompete gespielt. Die Leute mochten seinen runden, weichen Ton. Aber dann hatte er Albert Mangelsdorff mit seiner riesigen Posaune gehört. Mangelsdorff hatte gleichzeitig geblasen und in das Mundstück gesungen. Biegler war sofort klar gewesen, dass er selbst nie wieder spielen würde.
Er schob den Anruf bei Elly hinaus, bis er über die italienisch-österreichische Grenze war. Natürlich schimpfte sie. »Du bist nicht zu retten, Biegler«, sagte sie.
Drei Stunden später parkte Biegler vor dem Bayerischen Hof in München. »Zivilisation«, sagte er und meinte Zimmerservice. Er gab dem Concierge zu viel Trinkgeld.
Obwohl Biegler sonst nur duschte, lag er fast eine Stunde in der Badewanne. Als der Etagenkellner den Briefumschlag in seinem Zimmer abgab, hatte er noch den Bademantel an. Biegler suchte seine Lesebrille, setzte sich an den Schreibtisch und las den Vermerk. Er legte sich auf das Sofa. Er wusste, wie krank er war, aber er musste zurück. Sie sind zu weit gegangen, dachte er.
3
Am übernächsten Morgen in Berlin stand Biegler um sechs Uhr auf. In der Nacht hatte er die Akten gelesen und wenig geschlafen. Trotzdem fühlte er sich frisch und erholt. Er frühstückte mit Elly.
»Letzte Woche war der Baumsachverständige da«, sagte Elly hinter ihrer Zeitung.
»Wer bitte?«
»Der Baumsachverständige. Wenn du hier einen Baum fällen willst, muss ein Baumsachverständiger es erlauben.«
»Oh Gott«, sagte Biegler.
»Er hat gesagt, der Baum sei völlig gesund. Du darfst ihn nicht fällen«, sagte Elly.
Der Baum stand vor dem Wintergarten, in dem sie jeden Morgen frühstückten. Er verdunkelte das Zimmer.
»Heißt das, ich muss weiter im Schatten leben?«
»So in etwa«, sagte Elly.
»Die Deutschen sind wirklich verrückt«, sagte Biegler. »Ich werde den Baum vergiften. Mit Blei. Wie macht man das eigentlich?«
Elly antwortete nicht.
»Ich könnte einen Mandanten anrufen, der auf den Baum schießt«, sagte Biegler.
»Hör auf zu schimpfen«, sagte Elly.
Vor zwei Jahren hatte Elly ihn zu einem Psychoanalytiker geschickt. Er werde immer unerträglicher, hatte sie gesagt. Er war tatsächlich dorthin gegangen, acht Sitzungen hatte er dem Analytiker beim Atmen zugehört. Jede Stunde hatte ihn 85 Euro gekostet. Natürlich hatte Biegler kein Wort gesprochen. Er hatte es langweilig gefunden, über sich selbst nachzudenken. Nach 680 Euro hatte er die Analyse abgebrochen. Er traute sich nicht, es Elly zu sagen, und lebte seitdem in der Angst, sie würde es rausbekommen. Er hatte Freuds »Gesammelte Werke« gekauft, manchmal zitierte er daraus. Er hoffte, damit durchzukommen.
»In der Zeitung steht, du hättest den Fall dieses Künstlers übernommen«, sagte Elly.
»Vielleicht mache ich es.«
»Sie schreiben, er sei es wahrscheinlich gewesen.«
»Sonst wäre es keine Meldung«, sagte Biegler.
Elly schlug ihm vor, der neuen Sekretärin Blumen mitzubringen, aber er lehnte es ab. »Blüten sind geöffnete Geschlechtsorgane, so etwas verschenke ich nicht, vor allem nicht an eine junge Frau«, sagte er.
Um acht Uhr fuhr er in die Haftanstalt nach Moabit. An der Abfertigung legte er die Vollmacht für
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