Tabu: Thriller
Angehörigen der Opfer sprechen und die Bilder der Nachrichtenreportagen über die Morde nutzen. Es würde Monate dauern. Und in ihrer Freizeit – so sie denn überhaupt noch Freizeit hätte – musste sie an dem Buch weiterarbeiten. Würde sie in den nächsten Jahren überhaupt noch Zeit für Freunde und Bekannte haben? Oder für einen neuen Mann?
Sie schob die Schreibmaschine etwas weiter auf den Tisch und ging nach draußen in die Dunkelheit.
Durch die Bäume blinkten ihr die Lichter des Dorfes entgegen.
Die Bergluft strich ihr eisig über das Gesicht. Wald und Felsen erhoben sich wie eine schwarze Wand. Weit entfernt kläffte ein Hofhund. Das Rauschen des Waldes schlug eine Saite in ihrem Inneren an und versetzte sie in die Zeit zurück, in der sie mit Mutter und Vater hier oben gewesen und wie jetzt im Dunkeln gestanden hatte, um einmal ein bisschen allein zu sein. Wie alt mochte sie damals gewesen sein? Dreizehn? Vierzehn? Sie war alleine durch die Dunkelheit geschlendert und hatte endlich einmal keine Angst gehabt. Bis ganz nach oben zu dem Felsen war sie gegangen, ihrem Denkstein, wie sie ihn nannte, war hinaufgeklettert und hatte oben dem Nordwind gelauscht. Dieser Abend hatte einen ganz besonderen Zauber gehabt. An diesem Abend hatte sie ihre Kindheit abgeschlossen. Von der Spitze des Denksteins aus hatte sie über das dunkle Tal geblickt, über die vereinzelten Lichter, die Silhouetten der Berge vor den Sternen. An diesem Abend hatte sie eine Erzählung geschrieben, mit der sie besonders zufrieden war. Alle hatten sie gelesen und sie dafür gelobt, und oben auf dem Denkstein war ihr zum ersten Mal bewusst geworden, dass ihre Zukunft in den Worten lag. Die Erkenntnis, plötzlich zu wissen, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte, war wie ein prickelndes Zittern durch ihren Körper gefahren. Als sie wieder nach unten kletterte und durch das hohe Gras zurück zur Alm watete, tat sie das als junge Frau. Ihren Eltern oder ihrem Bruder, die gemeinsam Karten spielten, sagte sie nichts davon. Sie suchte sich ein Buch und kauerte sich in die Sofaecke. Dann sagte sie Gute Nacht, bevor sie aufgefordert wurde, ins Bett zu gehen, und ging in ihr Zimmer, wo sie sich auszog. Ehe sie das Nachthemd überstreifte, blickte sie an ihrem mageren Körper nach unten, und zum ersten Mal schämte sie sich nicht für ihre knospenden, kleinen Brüste.
Am nächsten Morgen dachte sie nicht mehr viel über das nach, was am Abend zuvor geschehen war. Trotzdem war dieser Abend irgendwie verzaubert gewesen. Den Rest des Sommers hatte sie sich nicht mehr für ihre alten Spielchen interessiert, und im Herbst darauf war sie mit einem Jungen aus dem Freizeitclub gegangen. Der Erste von – wie vielen?
Sie trat vor das Haus und setzte sich auf die graue Bank. Ein Schaf blökte. Der Geruch der Blumenwiese hing schwer in der Luft. Die Bank knirschte, als sie sich zurücklehnte und die Arme auf die Rückenlehne legte. Weit unten im Dorf war eine Autohupe zu hören.
Hier oben fühlte sich alles so unwirklich an. All das, was sie das letzte halbe Jahr beschäftigt hatte. Hatte sie sich ihr Leben so vorgestellt, als sie nur halb so alt wie jetzt dort oben auf ihrem Denkstein gesessen hatte?
Auf einem Hof auf der anderen Seite des Tales gingen die Lichter aus.
Sie blieb noch ein paar Minuten grübelnd sitzen, ehe sie aufstand und in die Almhütte ging. Sie verschloss die Tür und setzte sich an die Schreibmaschine. Es war bald halb zwölf. Sie zog die Schreibmaschine näher zu sich und starrte eine Weile auf die altmodische Tastatur, ehe das unregelmäßige Hämmern der Tasten den Raum erfüllte.
3
Sie schrieb bis drei Uhr morgens und schlief dann tief und fest bis gegen elf. Als sie wach wurde, konnte sie sich nicht daran erinnern, ob sie geträumt hatte. Die Luft im Schlafzimmer war warm und muffig. Sie öffnete das Fenster, das sie zu kippen vergessen hatte, suchte sich Slip und Strümpfe und zog den gleichen Pullover wie am Vortag an.
Das Gras vor dem Klohäuschen war nass, und als sie die Tür öffnete, tropfte es ihr vom Rahmen eiskalt in den Nacken.
In der Küche legte sie ein paar Birkenscheite in den gusseisernen Ofen und kochte sich einen Becher Tee mit Honig zum Frühstück. Sie hörte die Nachrichten. Dann rief sie Halvor an, um seine Stimme zu hören.
Sie fragte sich, ob sie auch Gunnar anrufen sollte, scheute aber davor zurück.
Es verging eine weitere halbe Stunde, bis sie sich widerwillig der Schreibmaschine
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