Tabu: Thriller
nach Hause. Er suchte sich ein gutes Buch aus dem Regal, setzte sich in den lederbezogenen Ohrensessel, wo er sitzen blieb, bis es Zeit war, ins Bett zu gehen.
Krähen
I
Die Krähen kamen im Morgengrauen.
Die Wolken hingen tief und nassgrau über den Hängen. Depriwetter, dachte Kristin. Noch benommen vom Schlaf zog sie sich an und schlurfte nach unten ins Erdgeschoss. Die Scheiben waren beschlagen, und die Luft hatte etwas Raues.
Sie hörte die Krähen, als sie auf dem Weg zum Klohäuschen war.
Zuerst erkannte sie das mehrstimmige Geräusch nicht, doch dann entdeckte sie die schwarze Vogelwolke, die vom Wald herübergeflattert kam. Der Schwarm landete in der toten Eiche auf der anderen Seite der Weide.
»Fliegt weiter, ihr dummen Vögel«, murmelte sie.
Aber sie flogen nicht weiter. Lärmend hockten sie auf den kahlen Ästen und warteten.
Sie stellte den dampfend heißen Teebecher auf den Tisch neben die Schreibmaschine, stützte das Kinn in die Hände und starrte auf die Zeilen des nur zur Hälfte beschriebenen Blattes.
Sie näherte sich dem Ende des Kapitels über Una Mørch, aber sie kam mit dem Schreiben nicht recht voran. Die Worte sperrten sich, und jeder Satz schien erst durch ein enges Nadelöhr gezogen werden zu müssen.
Der Tag verging langsam. Vergeblich wartete sie auf den Regenschauer. Gegen Nachmittag senkte sich die Wolkendecke noch tiefer und hüllte die Landschaft in Nebel. Jetzt konnte sie nicht einmal mehr bis zum Waldrand blicken.
Sie verschloss die Tür und ging von Fenster zu Fenster, ruhelos und beklommen. Ein paar Minuten saß sie an der Schreibmaschine und starrte durch das Fenster nach draußen. Dann begann sie, eine Patience zu legen, versuchte, wieder zu schreiben, blätterte durch ein Magazin, stapelte die Karten übereinander und starrte erneut aus dem Fenster.
Mittags kochte sie sich eine Fleischbrühe. Als sie gegessen hatte, zog sie den alten Regenmantel an, der im Flur hing, und ging durch den Nebel zu der Quelle, wo sie zwei Eimer mit Wasser füllte.
Irgendwo in der grauen Leere konnte sie noch immer die Krähen hören.
2
Die Dämmerung brach früh herein. Der Nebel ließ das Dunkel zu einer dicken, fast fühlbaren Masse werden. Schließlich brach sie einen ihrer Vorsätze und holte das Handy hervor, um Halvor anzurufen und zu fragen, ob es unten regnete. Ein Vorwand, das wusste sie. Aber der Akku war leer.
Sie zog die Gardine vor, denn sie fürchtete, plötzlich ein Gesicht zu sehen, das sich von außen an die Scheibe drückte. Dann goss sie sich einen Whisky aus Halvors Flasche aus dem Eckschrank ein und begann eine Patience. Sie wollte nicht aufgehen. Schließlich gönnte sie sich noch einen Drink. Als sie spürte, dass sie aufs Klo musste, stand sie lange da, die Hand am Schlüssel, ehe sie sich über einen leeren Eimer in der Küche hockte.
Erst als sie ins Bett gehen wollte, bemerkte sie, dass die alte Standuhr stehen geblieben war. Sie stellte sie und zog sie auf.
Dann trat sie vor den alten Spiegel.
Das Spiegelbild war mit den Jahren noch matter geworden. Stand sie zu weit links, sah sie aus wie eine deformierte Mutantin. Und stand sie rechts, schien sie an einer fortgeschrittenen Variante der Beulenpest zu leiden. Nur genau in der Mitte war das Spiegelbild einigermaßen gerecht, aber auch nur, wenn sie sich nicht bewegte.
Wie oft hatte Halvor Kristin in ihrer Jugend mit diesem Spiegel Angst gemacht. Obgleich sie nicht an die seltsame Familiensage über das kleine Mädchen, das im Spiegel gefangen sein sollte, glaubte, hatte sie Stunden vor der matten Fläche verbracht: starrend, träumend… wartend.
Sie schaltete das Licht aus, knipste die Taschenlampe an und ging nach oben ins Schlafzimmer. Sie machte kein Fenster auf. Diese verfluchte Stille! Sie legte den Pullover, das Flanellhemd und den BH auf einen Haufen, die Levi’s, die Strumpfhose und den Slip auf einen anderen. Es war ein bisschen kühl, so dass sie wieder ihr altes, unförmiges Nachthemd anzog. Dann kroch sie ins Bett und zog sich die Decke bis zum Kinn.
Kein Kommentar
In dieser Nacht träumte er wieder von Vietnam.
Die Sonne scheint. Er steht auf der grasbewachsenen Ebene unweit des Dschungels und flachst mit einem Kollegen von der New York Times herum. Er hört den Schuss nicht. Als er den Schmerz spürt, glaubt er, ein giftiges Insekt habe ihn in den Schenkel gebissen. Verständnislos registriert er die abgehackten Befehle des farbigen amerikanischen Sergeants und sieht, wie
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