Tabu: Thriller
sich die Soldaten und anderen Journalisten ins Gras werfen. Dann hört er das Knattern der Maschinengewehre der Patrouille. Er wirft sich zu Boden. Erst jetzt begreift er, dass er von einem Schuss getroffen wurde. Der Kollege von der New York Times robbt zu ihm und reißt ihm die Hose auf. Nickt beruhigend, Don’t worry, buddy . Nur eine Fleischwunde. Aus dem Dschungel hört er schrilles Rufen in einer fremden Sprache. Jemand schreit in Todesangst. Schüsse.
Wie gewöhnlich sind es die Schüsse, die ihn wecken.
Er nahm ein spätes Frühstück und fuhr mit einem Taxi direkt zu Rita Quists Laden »Banshees«. Er war geschlossen. Er brauchte ein paar Stunden, um Oscar Lund im Präsidium aufzutreiben, aber auch der wusste nichts Neues zu erzählen. Rune Strøms Rechtsanwältin war erst ab vierzehn Uhr zu sprechen.
Als er eine Minute vor zwei wieder anrief, wurde er von der Vorzimmerdame der Anwältin widerstrebend durchgestellt. Gunnar stellte sich vor. Sein Name hatte einst wie eine Zauberformel gewirkt, ein Sesam-öffne-dich, bei dem es seinen Gesprächspartnern am anderen Ende regelmäßig den Atem verschlagen hatte – Gunnar Borg? Das war lange vorbei. Niemand erinnerte sich mehr an ihn, und diejenigen, die ihn einmal bewundert hatten, hielten ihn für tot.
Die Anwältin Karianne Li klang abweisend und desinteressiert. »Um was geht es konkret?«
Gunnar holte seine staatsmännische Stimme hervor. »Ich würde gerne mit Ihnen sprechen, wenn sich das einrichten lässt.«
» No way, es gibt wohl keinen Journalisten in Oslo, der mich nicht bereits angerufen und um das Gleiche gebeten hat. Ich habe ganz einfach keine Zeit für so etwas. Um was für ein Interview dreht es sich denn?«
»Kein Interview. Nicht notwendigerweise. Ich hätte gerne ein paar Informationen.«
»Wer nicht? Klären Sie mich auf. Sie sind der vierte Journalist vom Dagbladet , der mich anruft, und ich habe bereits ausdrücklich gesagt, dass ich keinen Kommentar abzugeben habe. Was wollen Sie?«
Er sagte: »Um ehrlich zu sein: Ich bin nicht sicher, ob die Polizei den richtigen Mann hat.«
Die Anwältin wurde still. Dann pfiff sie leise in den Hörer. »Gratuliere!«, sagte sie gereizt, zweifelnd. »Das ist das erste Mal, dass ich so etwas von einem Journalisten höre. Darf ich fragen, warum?«
»Das ist eine lange Geschichte. Haben Sie ein paar Minuten Zeit?«
»Okay, wenn es wirklich so ist, dass endlich jemand von Ihnen bereit ist, gegen den Strom zu schwimmen. Aber vor morgen geht es nicht. Mein Terminkalender quillt über.«
Erinnerungen
I
Am nächsten Morgen waren der Nebel und die Krähen verschwunden.
Vormittags ging sie zu Halvor hinunter, um ein Schwätzchen zu halten und den Akku ihres Handys aufzuladen. Auf dem Weg dorthin pflückte sie ein paar Wiesenblumen. Er hatte gern ein paar Blumen in der Küche.
Halvor war nicht zu Hause, aber sie wusste von dem Ersatzschlüssel im Werkzeugschrank in der Scheune.
Während der Akku lud, blätterte sie durch ein paar Ausgaben der Lokalzeitung (sie sah noch immer so aus wie in ihrer Kindheit) und der Jagd- und Männermagazine, die Halvor abonnierte. Er war ein begeisterter Jäger und Fliegenfischer. In einer Zeitung fehlten ein paar Seiten, und als sie im Inhaltsverzeichnis nachschlug, entdeckte sie, dass dort das Model der Woche abgedruckt gewesen war.
Als die Akkulampe grün leuchtete, schrieb sie ihm einen Zettel, dass sie im Haus gewesen war. Sie schloss die Tür ab und hängte den Schlüssel wieder an den Nagel im Werkzeugschrank.
Fast den ganzen Weg hinauf zur Alm legte sie im Laufschritt zurück, so dass sie ganz verschwitzt und außer Atem oben ankam. Sie vermisste eine Dusche. Ehe sie mit dem Schreiben begann, wusch sie sich in der Küche die Haare und den Oberkörper mit kaltem Wasser.
2
An diesem Abend holte sie eine von Halvors Flaschen mit selbst gemachtem Johannisbeerwein aus dem Erdkeller. Nach nur wenigen Stunden war die Flasche leer. Der sanfte Rausch erfüllte sie mit stillem Glück.
Ihr Blick glitt über die unebenen Linien der nur halb beschriebenen Seite in der Schreibmaschine. Der Gedanke, dass diese Worte irgendwann einmal in einem Buch abgedruckt sein würden, war merkwürdig. Wann würde ihr Leben endlich wieder normal sein? Überhaupt jemals? Nach Ende der Beurlaubung musste sie sofort mit dem Dokumentarfilm über die Morde beginnen. Richard Wolter wollte eine fünfteilige Serie. Sie sollte Freunde und Nachbarn von Rune Strøm interviewen, mit den
Weitere Kostenlose Bücher