Tabu: Thriller
näherte. Es überraschte sie, welche Überwindung es sie kostete, in Gang zu kommen. Wenn sie erst dabei war, konnte sie stundenlang schreiben, ohne zu merken, wie die Zeit verging. Aber den Motor zu starten, war alles andere als leicht.
Sie überflog die letzten Seiten von gestern, ehe sie ein leeres Blatt einlegte. Die Formulierungen, die ihr in der Nacht so gut gefallen hatten, klangen jetzt, im Tageslicht, überladen und künstlich.
Sie starrte vor sich hin auf das weiße Blatt und die Tasten der Schreibmaschine. Dann tippte sie langsam:
Der Fall änderte sich, als die Leiche von Anita im Wasserbecken vor dem Osloer Rathaus gefunden wurde.
Sie flüsterte: »Nein, also wirklich, Kristin!« Mit verkrampften Fingern hämmerte sie mit der X-Taste über den gesamten Satz und unternahm einen neuen Versuch:
Die Sonne war gerade erst aufgegangen, als ein Mann von der Stadtreinigung Anita im Wasserbecken vor dem Osloer Rathaus entdeckte. In dieser idyllischen Morgenstunde nahm der Fall eine Wendung: Zum ersten Mal hatte die Polizei mehr als nur Videobilder und handgeschriebene Briefe.
Sie hatte eine Leiche.
Draußen blökten die Schafe unruhig. Sie sah aus dem Fenster. Hoch am Himmel kreiste ein großer Vogel – Adler? Habicht? Sie folgte ihm mit den Augen, bis er aus ihrem Blickfeld verschwand. Der Rauch von einem Feuer, das auf der anderen Talseite irgendwo versteckt zwischen den Bäumen brannte, stieg senkrecht auf, ehe der Wind ihn in rastlose Wirbel zerlegte. Sie beugte sich vor und versuchte, den Vogel zu erblicken. Die Schafe verstummten.
Die Stunden entglitten ihr, während sie schrieb.
Der Manuskriptstapel neben der Schreibmaschine wuchs Blatt für Blatt. Sie saß konzentriert da, den Blick auf das weiße Papier oder die Tasten geheftet.
Sie schrieb, bis ihr der Magen vor Hunger knurrte. In der Küche wärmte sie sich ein italienisches Tütengericht auf, das nicht gerade überzeugend schmeckte. Dann nahm sie einen Becher Tee mit nach draußen und setzte sich auf die Treppe. Obgleich die Sonne wärmte, war der Wind eisig. Sie fragte sich, ob es im Hochgebirge bereits schneite.
Eine Viertelstunde blieb sie auf der Treppe sitzen, schlürfte Tee und spuckte Teeblätter aus, die an ihrer Zunge kleben blieben. Den letzten Rest kippte sie ins Gras.
Dann ging sie in die Hütte und holte das Handy, um Gunnar anzurufen.
Die alte Clique
I
Karianne Li wirkte zu Beginn recht kühl. Sie taute dann aber zusehends auf, und Gunnar stellte verwundert fest, dass er sie sehr anziehend fand. Auf den Bildern in den Zeitungen und im Fernsehen hatte die Anwältin geschäftsmäßig und grau gewirkt wie eine Maus. Er war überrascht darüber, wie attraktiv sie sein konnte, wenn sie wollte. Während er über den Grund seines Besuches sprach, ließ sie ihn nicht aus den Augen.
Sie wollte wissen, wie sie ihm helfen konnte, und er versicherte ihr, er werde kein Interview machen. Aus Erfahrung wusste er, dass Anwälte ihres Kalibers sich leichter öffneten, wenn sie sich sicher waren, nicht zitiert zu werden. Was er brauchte, erklärte er, seien Hintergrundinformationen, gute Tipps und gerne auch Namen von Personen, die dazu beitragen könnten, etwas mehr Licht auf Rune Strøm zu werfen. Am liebsten alte Freunde. »Aus der Zeit, in der Linda getötet wurde«, erklärte er.
»No problem«, sagte sie und holte ein paar Akten aus ihrem Archivschrank. »Er gehörte damals einer Clique an.« Sie schaute mit zusammengekniffenen Augen in ihre Papiere und lächelte ihn an: »Diese Namen haben Sie natürlich nicht von mir: Rita Quist, sein Alibi, wohnt und arbeitet im Markveien. Werner Schwartz, Kunstmaler, Atelier und Wohnung im Parkveien, hieß damals übrigens Per Hansen. Ann-Reidun Skard, Sozialfall, Patientin in der Psychiatrie von Solvik bei Drammen. Tor Berg. Zahnarzt, Praxis im Stovnercenter.«
Gunnar notierte die Namen auf einem Block. »Werden Sie im Prozess auf nicht schuldig plädieren?«, fragte er.
»You bet!«
»Und Sie glauben auch, dass er unschuldig ist?«
»Ich richte mich nach dem, was er mir erzählt. Und er beteuert, nie einen Menschen umgebracht zu haben. Warum glauben Sie , dass er unschuldig ist?«
Gunnar sah an die Decke und dachte nach. »Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Ich folge einfach meinem Instinkt. Vielleicht erscheint mir das alles einfach zu… gestellt? Zu klar? Ich weiß nicht. Haben Sie mal den Eindruck gehabt, er könnte lügen? Dass er womöglich doch schuldig ist? Und dass Sie in
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