Tabu: Thriller
Wanne ertränkt wurde. Rune Strøms Sternzeichen Wassermann. Die Kleider aus dem Mülleimer, die der Polizei auf einem Silbertablett serviert wurden. Sind diese Spuren nicht ein bisschen zu… deutlich?«
»Die Polizei war da anderer Meinung.«
»Vielleicht hat sie das Gesamtbild übersehen?«
»Gunnar«, sagte sie kalt, »verzeih mir, wenn ich ein bisschen herzlos wirke, aber ist es nicht so, dass ein Delirium bei manchen Leuten Verfolgungswahn hervorruft?«
»Ich… Kristin, es gefällt mir nicht, dass du da oben ganz allein bist.«
Er hörte ihr Lachen im Hörer. »Entspann dich! Und wie auch immer, Gunnar – die Alm ist der friedlichste Platz auf Gottes Erden. Die liegt meilenweit entfernt von allem anderen! Ich könnte nirgends sicherer sein!«
Er sagte: »Nicht wenn er noch auf freiem Fuß ist und es auf dich abgesehen hat.«
»Ach, hör auf, Gunnar!«
»Aber Kristin…«
»Ich habe gesagt, du sollst aufhören!«
Er seufzte. »Ich werde dich nicht weiter bedrängen.« Pause. »Also, warum rufst du an?«
»Ich wollte wissen, wie es dir geht.«
»Du meinst, ob ich nüchtern bin?«
»Ist doch eigentlich witzig, oder. Du machst dir Sorgen um mich, und ich mache mir Sorgen um dich.«
»Dass ich wieder anfangen könnte zu trinken?«
»Sei nicht so gereizt. Ich wollte nur hören, wie es dir geht.«
Wieder dauerte es eine Weile, bis er antwortete. »Entschuldigung«, sagte er. »Es ist nicht deine Schuld, dass ich…« Er blickte in den dunklen Flur. »Es ist so jämmerlich, Kristin. So jämmerlich!«
»Ich fühle mich verantwortlich, Gunnar!«
»Das bist du nicht. Es ist ganz allein meine Schuld!«
»Ich wollte dich nicht außen vor halten. Das ist wirklich wahr. Ich dachte, du hättest der Zeitung Bescheid gegeben. Ich hatte nie…«
»Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen, Kristin.«
Es wurde einen Moment still. Aber es war keine kühle Pause.
»Also, wie läuft’s mit dem Buch?«, fragte er.
Sie erzählte ihm vom Schreiben, wie weit sie gekommen war, und vom Leben auf der Alm. Während sie sprach, betrachtete Gunnar sich die ganze Zeit über in dem länglichen Spiegel, der im Flur über dem Telefontischchen hing. Nur, dass es Kristin war, die er dabei sah.
»Sei vorsichtig«, sagte er, bevor er auflegte.
Das Mädchen im Spiegel
I
Gegen Mitternacht löschte sie die Öllampe und nahm die Taschenlampe mit nach oben ins Schlafzimmer. Die Schultern und das rechte Handgelenk schmerzten vom Schreiben.
Bevor sie sich auszog, legte sie die Kleider heraus, die sie am nächsten Tag anziehen wollte. Sie schlotterte. Hüpfend zog sie ihr Nachthemd an, kletterte ins Bett und zog die Decke bis zur Nasenspitze hoch.
Während sie auf den Schlaf wartete, dachte sie an Mutter und Vater.
2
Auch nach dem Einschlafen kreisten ihre Gedanken im Traum um ihren Vater. Sie waren gemeinsam in Bø, ein stockfinsterer Abend voller Regendunst und flüsternder Stimmen. Das Haus knarrte und knackte; Türen gingen auf und schlossen sich, vorsichtige Schritte huschten über den Boden. Aber sie sahen niemanden. Sie standen im Wohnzimmer vor dem alten Spiegel. Ihr Vater fragte sie, wer das Mädchen im Spiegel sei, und sie lachte, weil er nicht erkannte, dass sie das war. Er erkannte sie nicht. Sie hielt ihr Gesicht direkt vor den Spiegel und entdeckte, dass es tatsächlich nicht sie war, sondern eine Fremde. Erschrocken trat sie einen Schritt zurück, doch das Mädchen im Spiegel folgte ihr. Ihr Gesicht und ihre ausgestreckten Hände pressten sich von hinten gegen das Glas, und der Spiegel legte sich wie eine Gummimembran über die Fremde, während sie versuchte, sich zu befreien.
Kristin wollte weglaufen, aber ihr Vater hielt sie fest. Sie versuchte zu schreien, doch es gelang ihr nicht, und als sie zu ihm aufsah, war auch ihr Vater zu einem Fremden geworden. Er lachte sie aus. Ein trockenes, heiseres Lachen.
Das Mädchen im Spiegel packte sie mit kalten Händen. Kristin sah der Fremden tief in die Augen.
Und erkannte sich selbst.
Endlich löste sich der Schrei.
Sie schreckte aus dem Schlaf auf.
Der Raum war dunkel, eine Dunkelheit, die sich dick und klamm anfühlte. Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt.
Das Schlimmste an Albträumen ist das Aufwachen allein in einem dunklen Raum. Sie hatte eine kindliche Angst vor diesen Träumen. Wenn sie neben jemandem schlief, schmiegte sie sich nach einem solchen Traum immer dicht an den anderen.
Dann hörte sie das Geräusch.
Es war nicht sonderlich laut.
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