Tabu: Thriller
sich mit den Fingern auf den Bauch. »Kristin?«
Etwas entfernt hörte sie eine Sirene. »Wir können diese Aufnahme… nicht zeigen? Das ist doch nicht dein Ernst. Das kann doch nicht dein Ernst sein, du bist ja verrückt!«
Wolter faltete die Hände und fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. »Es ist nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber zu diskutieren. Wir stehen noch alle unter Schock.«
»Was hat das damit zu tun?«
»Lass uns später darüber reden. Unsere spontane Reaktion stört unsere grundsätzliche Einschätzung. Aber bevor die Polizei da ist, will ich euch auf jeden Fall sagen, dass ich der Meinung bin, wir sollten diese Aufnahme in irgendeiner Form zeigen.«
»Richard, die Frau wurde ermordet!«, platzte Kristin heraus.
»Ich glaube, du tickst nicht mehr richtig!«, sagte Skaug. »Das wird die reinste Hölle, ich sag’s dir, die Hölle!«
Die Sirene verstummte.
Wolter nickte langsam. »Ich weiß, dass es einen Aufschrei geben wird. Aber ihr lasst euch von euren Gefühlen leiten und denkt nicht wirklich professionell darüber nach. Ihr seid schockiert und aufgewühlt! Das verstehe ich gut. Auch ich bin schockiert und außer mir! Ich habe noch nie so etwas Schreckliches gesehen. Aber wir dürfen nicht vergessen, wer wir sind und wofür wir stehen.«
»Ich glaube, ich habe das bereits vergessen«, sagte Kristin.
»Wir sind professionelle Nachrichtenjournalisten. Und das schließt auch unangenehme Pflichten mit ein.« Er machte eine Pause und musterte Kristin.
»Pflichten?«, fragte sie, bloß, um etwas zu sagen.
»Wir lassen doch auch keinen Flugzeugabsturz unberücksichtigt, weil er so tragisch ist, oder? Und wenn ein Amateurfotograf ein Flugzeug filmt, das mitten in den Vigelandspark stürzt, dann zeigen wir die Bilder, nicht wahr? Auch wenn uns dieses Unglück noch so sehr unter die Haut geht. Meine Meinung ist, dass wir diese Bilder nüchtern und professionell bewerten müssen. Das können wir nicht, solange wir unter Schock stehen. Vang wird jeden Augenblick hier sein. Ich werde mich um die Polizei kümmern. Geht und holt euch einen Kaffee, macht einen Spaziergang, beruhigt euch und denkt noch einmal darüber nach. Wir treffen uns dann hier, wenn Vang wieder weg ist.«
»Aber Richard, wirklich, wir können doch nicht…«, murmelte Kristin.
Skaug nahm ihren Arm und zog sie zur Tür. »Komm, trinken wir einen Kaffee.«
»Mein Gott, er … er hat sie getötet! Einfach so… ohne Weiteres!« Die letzten Worte gingen in einem Schluchzen unter.
Skaug blieb stehen und sah an die Decke. »Weißt du, es gibt einen Namen für so etwas. Snuff Movies. Filme, die tatsächliche Verstümmelungen zeigen, Folter und Mord. Also echte Sachen. Das ist widerwärtig. Bisher habe ich nur davon gelesen … Hätte nie gedacht, dass…«
Es klopfte. Die Frau vom Empfang steckte den Kopf zur Tür herein. »Polizeidirektor Vang steht am Empfang. Er ist ziemlich ungeduldig, soll ich ihn hereinschicken?«
3
Als Kanal 24 gegründet wurde, kauften die Eigner eine große, herrschaftliche Villa im Wergelandsveien, gegenüber dem Schloss, und bauten sie zu einem modernen Mediencenter um. Im Erdgeschoss lagen der Empfang, die Nachrichtenredaktion, das Studio und die Technikabteilung, im ersten Stock die Programmredaktion und die PR-Abteilung und unter dem Dach die Administration und die Finanzverwaltung (auch Wall Street genannt). Im Grunde genommen war die herrschaftliche Villa vom ersten Tag an zu klein für die wachsenden Aktivitäten, so dass bereits im Laufe der ersten beiden Jahre zahlreiche Kanal- 24-Filialen in der Stadt eröffnet wurden. Jetzt fantasierten die Eigner des Senders davon, das gesamte Unternehmen nach Nydalen zu verlagern, ein abgelegenes Industrieviertel, in dem sich schon eine ganze Reihe von Medienbetrieben in dem Versuch angesiedelt hatte, ein neues Milieu aufzubauen. Kristin hoffte, dass die Redaktion blieb, wo sie war. Sie liebte die Stadt. Das Tempo. Die Nähe zu allem. Und sie liebte es, durch den Schlosspark zu schlendern, die Enten mit Brot zu füttern und der königlichen Garde einen Besuch abzustatten.
Ein Lastwagen bremste hart und hupte, als sie über den Wergelandsveien ging, ohne auf den Verkehr zu achten.
Die Ulmen im Schlosspark waren wie ein Märchenwald. Ihre Kronen filterten das Sonnenlicht und erschufen eine geisterhafte, dämmrige Stimmung. Sogar der Lärm der Stadt wurde hier ausgebremst. Mit geballten Fäusten hastete Kristin durch die Schatten und
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