Tabu: Thriller
nacheinander an. Einige kennt er auswendig. Die Schlusssätze von Vom Winde verweht . Teile des Monologs in Forrest Gump . Er wird es nie leid. Auch wenn er weiß, wie die Filme enden, bleibt die Spannung.
An diesem Abend entscheidet er sich für einen Westernklassiker: San Fernando .
Gegen drei Uhr geht er ins Bett. Shere Khan folgt ihm und legt sich ans Fußende. Draußen beginnt es langsam hell zu werden, und durch den Fensterspalt hört er das entfernte Rauschen auf dem Trondheimsveien.
Als er fünf Jahre alt war, hatte er einen Traum, der ihn seither jede Nacht quält. Es ist ein beißend kalter Wintermorgen. Eisiger Nebel zieht über den Boden. Er steht draußen auf einem zugefrorenen See. Das Eis sieht wie beschlagenes Glas aus. Er blickt durch das Eis und sieht seine Mutter. Er presst sein Gesicht fest gegen das Eis. Die Augen glühen. Mit ihren Händen versucht sie, Löcher in das Eis zu schlagen. Sie ruft seinen Namen, aber aus ihrem Mund kommen nur Blasen. Er sieht zu, wie sie sich die Finger blutig kratzt.
Am Vormittag macht er Frühstück für das Mädchen und legt einen Videofilm ein, damit sie sich nicht langweilt. Anschließend versucht er, mit ihr zu reden, aber sie ist nicht in der Stimmung. Ihre Antworten sind kurz. Wenn sie sich so aufführen will, bitte schön. Als er geht, legt er ihr keinen weiteren Film ein.
An dem Samstag, an dem er den ersten Videofilm und das kryptische Bibelzitat an Kristin schickt, spendiert er dem Mädchen Schokolade und Coca-Cola. Er lädt sie zu einem italienischen Videoabend ein: Ladri di biciclette, La Strada und La dolce vita hintereinander. Während der ganzen Zeit sitzt er da und beobachtet sie durch den Spiegel. Sie scheint die Filme zu mögen, insbesondere den letzten.
Spät bringt er ihr einen Teller Spaghetti und ein Glas Chianti. Der Wein löst ihr die Zunge.
Sonntag macht er einen langen Waldspaziergang in der Marka. Die ganze Zeit über denkt er an Kristin. Ihre Augen, die Stimme. Nachts träumt er von ihr. Unter dem Eis.
Er rechnet nicht damit, dass sie die Bilder des Mädchens zeigen. Der Film und das Zitat ergeben nicht genug Sinn. Trotzdem nimmt er sicherheitshalber alle Nachrichtensendungen auf und überprüft sie kurz, als er nach der Arbeit nach Hause kommt. Zweimal – Montag und Mittwoch – sieht er Kristin Bye im Studio. Dann spult er zurück und spielt die Sequenz noch einmal ab. Wieder und wieder.
Am darauffolgenden Mittwoch sendet er ihr den zweiten Umschlag. Aber auch da zeigen sie die Aufnahmen nicht. Er hatte geglaubt, sie würden sie zeigen. Schließlich geht aus ihnen deutlich hervor, dass das Mädchen gefangen ist. Und das Bibelzitat… er muss grinsen… dieses Zitat muss sie doch glauben lassen, er sei verrückt, krankhaft religiös besessen. Freitagabend dann (er hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben) zeigen sie die Bilder in der Achtzehn-Uhr-Sendung. Es ist fast zu gut, um wahr zu sein. Sie machen eine große Nummer daraus. Kristin Bye kommentiert, ein Redakteur sitzt anschließend im Studio und erklärt, warum sie sich entschlossen haben, die Aufnahmen zu zeigen.
Er öffnet eine Flasche Wein.
Danach nimmt er die Aufnahme der Nachrichtensendung mit in den Keller und zeigt sie auf dem Fernseher im Zimmer des Mädchens. Aber sie interessiert sich nicht dafür. Sie beginnt zu weinen, und fast wäre er zu ihr hineingegangen, um sie zu trösten.
Als er am nächsten Tag aus der Stadt zurückkommt, pflückt er im Garten ein Sträußchen Stiefmütterchen, bevor er in den Keller geht. Das Mädchen sitzt mit dem Rücken an der Wand. Als er die Blumen in die Vase mit Wasser stellt, sieht sie mit ihrem sonderbaren Blick zu ihm auf: diese merkwürdige Mischung aus Furcht, Wut und Gleichgültigkeit.
Er sagt: »Die Zeitungen schreiben Unmengen über uns.«
»Ach ja…«
»Aber sie haben noch nicht herausgefunden, wie du heißt. Ist das
nicht komisch?«
»Doch.«
»Wir sind auf allen Titelseiten.«
Sie schließt die Augen.
Er bleibt vor ihr stehen, weiß nicht, was er tun soll.
Eine Minute vergeht.
»Ich habe ein Geschenk für dich«, sagte er.
Sie öffnet die Augen und sieht zu ihm auf.
»Aber ich muss die Kette lösen, damit du auch Freude daran
hast.«
»Na dann…«
»Du musst mir versprechen, keinen Blödsinn zu machen.«
»In Ordnung.«
»Du weißt, was passiert, wenn…«
»Ich werde nichts tun.«
»Wenn du nur einen…«
»Ich tue nichts. Machen Sie die Kette ab. Bitte.«
Er öffnet die
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