Tabu: Thriller
spielt es für uns keine Rolle, ob irgendein journalistischer Moralapostel vom Dagbladet oder Aftenposten darüber verzweifelt, dass NRK sein Monopol verloren hat. Versteht ihr das nicht? Es ist die Wirklichkeit, die diese Menschen bearbeiten wollen!«
»Du hättest Politiker werden sollen«, sagte Kristin.
»Oder Prediger«, stimmte Skaug ihr zu.
»Ich sehe ein klares Argument dafür, die Aufnahme zu senden. Wir müssen das Publikum vor diesem Monster warnen«, sagte Skaug.
»Du, ich glaube, das kapieren die auch, ohne die Bilder zu sehen«, wandte Kristin ein.
»Aber gibt es denn wirklich einen Unterschied zwischen den Bildern der Frau in Gefangenschaft und den Bildern direkt vor ihrem Tod?«, fragte Wolter.
»Einen großen Unterschied«, sagte Kristin. »Auch die Zuschauer haben gewisse Rechte, wir können sie nicht zwingen, einen Mord anzusehen. Auf den ersten Videos lebt sie. Auf dem letzten sind wir Zeugen ihrer Liquidierung. Ich finde den Unterschied enorm.«
»Nicht prinzipiell, oder? Ich will ja auch nicht, dass wir den eigentlichen Mord zeigen. Nur die Situation, in der es zu dem Mord kommt. Und das Resultat. Du ziehst falsche Schlüsse, weil du deine moralische Verurteilung des Mordes in deine grundsätzliche Auswertung des journalistischen Bildmaterials einfließen lässt. Die Frau ist tot. Erschossen. Liquidiert. Das ist geschehen, ob wir nun darüber berichten oder nicht. Hier haben wir, zum ersten Mal in der Geschichte der Presse, eine Dokumentation der grausamen Natur eines Verbrechens. Alle Morde sind grausam. Alle! Wir haben nur nie Bilder, um zu dokumentieren, wie abscheulich und unbarmherzig ein Mord ist. Jetzt haben wir die Möglichkeit, unseren Zuschauern die Augen zu öffnen. Ihnen unmittelbar vor Augen zu führen, was für eine sinnlose Tragödie sich hinter jedem banalen Mord, der begangen wird, verbirgt.«
»Da sagst du was«, räumte Kristin ein. »Wenn auch dein Motiv etwas schwer nachzuvollziehen ist.«
»Sehr ihr das denn nicht?«, sagte Wolter. »Wir können Geschichte schreiben! Wir können die Leute wachrütteln. Die Zuschauer scheren sich nicht mehr darum. Sie akzeptieren Mord und Gewalt als einen Teil des Alltags. Das ist unsere Chance, sie aus ihrer Gleichgültigkeit zu reißen und ihnen bei sich zu Hause im Fernsehsessel eine schallende Ohrfeige zu versetzen: So sieht Gewalt aus. So sieht ein Mord aus!«
»Ja, ja, ich verstehe deinen Gedanken«, sagte Skaug. »Ich höre deine Argumente. Aber mein Bauch sagt etwas anderes.«
»Kristin?«
»Ich weiß nicht. Du konntest schon immer gut argumentieren. Am Schluss konnte ich dir aber nicht mehr so gut folgen.«
»Vermutlich, weil ich mich entschieden habe. Wir bringen das. Aber ich will niemanden zwingen. Ich führe bei der Sendung gern selber Regie, wenn du dich weigerst, Toralf. Die Achtzehn-Uhr-Sendung läuft wie gehabt, wir können das nicht ausstrahlen, wenn Kinder vorm Fernseher sitzen. Aber um zweiundzwanzig Uhr senden wir das. Mit Kommentar und allem. Kristin, Caspar ist sicher gerne bereit, das zu übernehmen. Ich respektiere dein Nein. Das meine ich ehrlich, ich will niemanden zwingen. Es ist eure Entscheidung.«
Skaug schüttelte sich. »Verdammt, Richard, ich gebe doch nicht die Sendung des Jahrhunderts an einen Nachrichtenredakteur ab.« Er drückte die unangezündete Zigarette im Aschenbecher aus.
Beide sahen Kristin an.
Sie presste ihre Handflächen gegeneinander. Sie fragte sich, ob sie im Begriff war, sich lächerlich zu machen. Vielleicht hatte Richard recht – vielleicht war es richtig, die Bilder zu zeigen. Vielleicht war es ihre Nachrichteneinschätzung, mit der etwas nicht stimmte. Vielleicht hätten sich alle Sender so entschieden, hätten sie die Bilder bekommen. Sogar »Dagsrevyen«.
Sie seufzte. »Okay. Ich bin zwar noch immer genauso unsicher wie zuvor, aber wenn du entscheidest, dass wir die Aufnahme zeigen, will ich mich selbst darum kümmern. Nur die Götter wissen, was für ein blutiges Gemetzel dabei herauskommt, wenn wir das Caspar überlassen. Doch unter einer Bedingung: Ich werde den Mord nicht zeigen. Den Augenblick des Todes, da weigere ich mich!«
Wolter und Skaug nickten.
Kristin dachte: Es war mein Entschluss. Ich durfte selbst entscheiden. Oder nicht?
5
Der Abend in der Redaktion war in jeder Hinsicht außergewöhnlich.
Skaug bellte seine Befehle, der Produzent schimpfte, Arve Arnesen kippte sich einen Becher Kaffee auf die Hose, und eine halbe Stunde vor der
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