Tabu: Thriller
also war der Grund, dass sie ihn so plötzlich verließ? Sein Piepser meldete sich. Er hatte ihn am Gürtel befestigt und musste ihn umdrehen, um den Text lesen zu können. »Die Sitzung ist eröffnet. Kommst du? Aksel A.«
Er vergräbt sie bei den Fliederbüschen im hintersten Winkel des Gartens. Die Erde ist nicht sonderlich hart, und er braucht nicht sehr tief zu graben. Nachdem er sie mit schwarzer Plastikfolie und Erde bedeckt hat, pflanzt er eine Reihe Tagetes, die er im Gartencenter im Angebot gekauft hat.
Das Beet sieht hübsch aus.
Er hat Spätschicht. Er hat ein Butterbrot und die Monatskarte in die Tasche gepackt. Und einen Schirm. Er geht nie ohne Schirm zur Arbeit. Man weiß nie, wann es anfängt zu regnen.
In der Innentasche seiner Jacke steckt der Brief. Er hat ihn nur einmal gelesen.
Ein einziges Mal.
Er liegt dort und brennt fast ein Loch in den Stoff.
Er versucht, nicht an ihn zu denken.
Sie steht draußen, als er von der Spätschicht kommt.
Er bleibt stehen. Im ersten Moment, bevor er den Blick scharf stellen kann, glaubt er, dass sie es ist. Was natürlich nicht stimmt. Trotzdem bleibt er stehen und starrt sie an. Sein Herz versucht, wie ein wildes Tier aus seinem Brustkorb herauszuspringen.
Sie bemerkt ihn nicht. Sie scheint auf jemanden zu warten, der schon längst hätte kommen sollen. Sie trägt ein dünnes, geblümtes Sommerkleid und hat langes, flachsblondes Haar.
Eine Nymphe. Eine kleine Nymphe, die erwachsen geworden ist. Er geht unbemerkt an ihr vorbei zur Bushaltestelle, von wo aus er sie beobachtet. Alle zwei Minuten schaut sie kurz auf die Uhr. Nach zehn, fünfzehn Minuten blickt sie von links nach rechts und geht.
Er folgt ihr mit gehörigem Abstand.
Sie bewegt sich rasch, fast zornig, und er muss sich beeilen, um mit ihr Schritt zu halten. Sie hastet die Stortingsgaten entlang, überquert unmittelbar vor einer hektisch bimmelnden Straßenbahn die Straße, läuft über den Platz vor dem Storting und folgt dann der Karl Johan Gate in Richtung Egertorget. Dort geht sie die Treppe zur U-Bahn-Station hinunter.
Sie wohnt in einem Einfamilienhaus in Godlia.
Er steht draußen an der Straße und wartet. Hinter einem Fenster in der ersten Etage geht das Licht an. Sie zieht die dünnen Gardinen vor, und er sieht ihre Silhouette dahinter hin und her laufen. Er schleicht in den Garten und studiert die Namen auf den Klingelschildern. Der Name des Hauseigentümers steht auf einer gediegenen Messingplatte. Der Name des Mädchens mit einem Etikettendrucker ausgedruckt auf einem selbst gebastelten schwarzen Plastikstreifen. Anita Fjordvik. Schöner Name, denkt er.
Am nächsten Morgen sitzt er in seinem Lieferwagen, den er ein Stück weiter oben in der Straße geparkt hat, und sieht sie zur U-Bahn laufen. Es ist halb neun. Er hat drei Stunden gewartet.
Er filmt sie, ohne dass sie ihn bemerkt.
Er lässt den Wagen stehen und folgt ihr.
In Tøyen steigt sie aus und fährt mit der Linie fünf weiter nach Blindern. Von dort geht sie zu einem Hörsaal der historisch-philosophischen Fakultät. Sie kommt zu spät zu ihrer Vorlesung. Sommerkurs – Geschichte III-IV steht auf einem Zettel, der mit zwei Heftzwecken an der Tür befestigt ist. Durch die geschlossene Tür hört er eine Stimme über die Armenfürsorge in den Städten im achtzehnten Jahrhundert dozieren. Er setzt sich auf eine harte Bank auf dem Flur und wartet.
In der Pause verlässt sie den Saal mit zwei anderen Mädchen und einem Jungen. Die Mädchen sind auffallend hübsch. Als sie an ihm vorbeigehen, hört er zum ersten Mal ihre Stimme. Ein sonniger Dialekt. Er schnappt auf, dass Espen nie hält, was er verspricht, und dass sie jetzt das letzte Mal… mehr bekommt er nicht mit.
Er schafft es noch, zu Hause vorbeizufahren und die Videoaufnahmen zu bearbeiten, ehe er zur Arbeit muss. In einem der ungenutzten Kinderzimmer in der oberen Etage hat er einen nahezu professionellen Redaktionsraum eingerichtet. Zwei große Fernsehbildschirme, drei Super-VHS-Player und ein gewöhnliches VHS-GERÄT. Kabelbündel. Mithilfe eines Computers kann er mit den Aufnahmen so ziemlich alles machen, was er will. Die Reihenfolge der Bilder verändern. Alles Unwesentliche rausschneiden. Text und Ton unterlegen.
Hier kann er eine neue Wirklichkeit erschaffen.
Er folgt ihr eine Woche.
Begleitet sie wie ein unsichtbarer Geist, belauscht ihre Unterhaltungen, bringt es sogar fertig, die Telefonnummer ihrer Eltern im Sørland aufzuspüren.
Weitere Kostenlose Bücher