Tacheles
brauchen konnte, und so nahm Bronstein das Präsent mit einem dankbaren Lächeln entgegen. Dann warf er einen Blick auf den Buchdeckel. „Praktische Grammatik der jiddischen Sprache von Salomo Birnbaum“, las er laut, das „Wien 1918“ registrierte er nur in Gedanken. Bronstein bemühte sich, das Lächeln beizubehalten, obwohl er sich eingestehen musste, enttäuscht zu sein. Er hätte sich viel lieber einen Kriminalroman gewünscht oder irgendeine Schilderung von Abenteuern, wie sie Jules Verne beschrieben hatte, doch dass er die Zeit im Krankenhaus mit Paukereien verbringen sollte, entsprach nicht unbedingt seinen Plänen. Noch dazu schenkte ihm der Herr Duft ein solches Buch sicher nicht ohne einschlägigen Hintergedanken: „Ihr gebt euch wirklich Mühe, mich zu eurem Volk zu bekehren, Herr Duft.“
„Punkt wie Ihr sugt es, es is keinmal nit zu spät zu dermonen sich, fun wanen men kimmt. Men muss wissen, fun wanen die Fiß wachsen. Un seht Ihr, asa Grammatik, wuss kein sein besser zu varwejlen sich in a Spitol? Men hot Zeit zu lesen, men hot Zeit zu lernen, men hot Zeit zu varstehn.“
Bronstein grinste: „Mir scheint, Ihr seid ein kleiner Philosoph.“
„Wuss redt Ihr, ich bin nit kein Philosoph, ich bin nit mehr wie a kleiner Geschäftsmann, wuss er handelt mit Tuch, nebbich. Un wie aselcher winsch ich Aich a Refue schleime, ihr sollt weren inganzen gesund, ich soll bald wieder hoben den groußen Kuwed und Ihr wet kummen zu mir in Geschäft.“
Jetzt musste Bronstein wieder raten, aber er ging davon aus, dass ihm eben baldige Besserung gewünscht worden war, damit Duft bald wieder die Ehre habe, ihn in seinem Geschäft willkommen zu heißen. Bronstein fragte sich, ob Duft sich eine Masche zugelegt hatte, um durch das Vortäuschen vonGeschäftsinteressen das allzu Persönliche nicht in den Vordergrund zu stellen. Es war eine nette Geste von Duft gewesen, ihn zu besuchen, und absolut keine Selbstverständlichkeit, wie Duft es eben behauptet hatte.
Doch das Grammatikbuch würde wohl dennoch ungelesen bleiben. Er war einfach zu alt, um noch einmal zu lernen, vor allem, er war zu alt, um umzulernen. Seine Welt, das waren Wagner, Schiller und Friedrich, und die ließ er sich nicht nehmen von irgendwelchen ungehobelten Flegeln, die meinten, die deutsche Kultur qua Geburt in den Adern zu haben. Die Nazis, dieser „Oiswurf“, würden spektakulär scheitern, und dann würde alles wieder so sein, wie es früher war.
Diese Aussicht beruhigte Bronstein, und er kramte, kaum dass er und Duft sich voneinander verabschiedet hatten, wieder seine Zigaretten hervor, um einen neuen Versuch, in den Hof zu gelangen, zu starten.
„Ja, Herr Oberst, wo wollen wir denn hin?“ Die Krankenschwester war fast in ihn hineingelaufen.
„In den Hof. Eine rauchen.“
„Nix da. In zehn Minuten gibt’s Essen. Sie bleiben schön da.“
Bronstein seufzte theatralisch. Wenn das hier so weiterging, dann war er am Ende seines Spitalsaufenthalts frischgebackener Nichtraucher.
XIII.
Mittwoch, 18. Juli 1934
Bronstein konnte sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, wie er die letzten Tage überstanden hatte. Deren einsamer Höhepunkt war der Montagnachmittag gewesen, als es ihm endlich gelungen war, in den Hof zu gelangen. Er hatte die warme Sommerluft genützt, sich auf eine Bank gesetzt und sich von der Sonne bescheinen lassen, während er glücklich eine „Donau“ zwischen die Zähne klemmte. Er kostete den Augenblick aus, wartete, so lange er nur konnte, darauf, die Zigarette auch tatsächlich anzuzünden, wollte diesen raren Moment des Glücks nicht vorschnell vergehen lassen. Unwillkürlich musste Bronstein an einen Liebesakt denken, wo er ebenfalls stets darum bemüht war, die Wonne möglichst auszudehnen und zu verlängern. Zu früh zu kommen brachte einen um das Vergnügen, und in seiner Lage war fraglos eine Zigarette das größte Vergnügen, das er sich selbst bereiten konnte. Und wie im Bett kam der Punkt, an dem er es einfach nicht mehr aushielt. Er riss das Feuerzeug nach oben, entflammte es und hielt es unter die Zigarette. Diese glomm auf, und Bronstein sog den Rauch gierig in seine Lungen. Ah! Glückseligkeit! Bronstein wartete lange, ehe er ausblies, und es kam ihm wirklich vor, als entwiche nun endlich all die Anspannung, die sich in den letzten Tagen in ihm angesammelt hatte. Und auch dieser Umstand schien ihm durchaus mit der entspannenden Wirkung der körperlichen Liebe vergleichbar – besonders
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