Tacheles
offensichtlich befand er sich unter massiver Bewachung, und an Flucht war vorerst nicht zu denken.
Aber wenigstens endlich einmal aufstehen konnte man. Um sich zu reinigen. Zwar hatte ihn die Schwester, wie er sich noch deutlich erinnerte, am Vortag mit einem feuchten Lappen ein wenig gesäubert, doch ihm war das einfach nur peinlich gewesen, weshalb er sie bald von dieser Verrichtung abgebracht hatte. Doch nach nunmehr vier Tagen im Bett, so dachte er, wäre es wohl hoch an der Zeit, auch einmal die privaten Teile einer Waschung zu unterziehen. Links neben seinem Bett befand sich eine kleine Hygiene-Kabine, und just diese gedachte er nun aufzusuchen. Mit einer flotten Bewegung versuchte er, sich aus dem Bett zu schwingen, doch als hätte er einen schweren Schwinger direkt auf den Kiefer bekommen, sackte er augenblicklich zusammen und krümmte sich vor Schmerz. Jetzt erst wurde ihm bewusst, dass die Prellungen und Quetschungen mitnichten verheilt waren. Sie hatten sich nur nicht in sein Gedächtnis gerufen, solange er still im Bett gelegen war. Aber bei jeder größeren Bewegung machten sich die Folgen der nächtlichen Auseinandersetzung eindringlich bemerkbar. Unddoch war Bronstein nicht gewillt, so schnell zu kapitulieren. Wie ein alter Mann wälzte er sich umständlich aus dem Bett und schlurfte dann, die Hände gegen seine Rippen gepresst, mit schmerzverzerrtem Gesicht zur Waschmuschel hin. Der Weg erschien ihm ewig, und er musste sich eingestehen, bis in den Spitalshof hätte er es ohnehin niemals geschafft. Anscheinend war die Prognose, er müsse noch eine ganze Woche das Bett hüten, nicht ohne Grund abgegeben worden.
Endlich in der Kabine, entledigte er sich mühsam seines Nachthemds und sah nun erstmals seit dem Überfall seinen nackten Körper. Die Farbenspiele, die sich seinem Blick darboten, waren abenteuerlich. Direkt unter der rechten Brust war ein handtellergroßer Fleck, der in einer merkwürdigen Mischung aus Violett, Grün und Gelb leuchtete. Kleinere Beulen, die den Oberkörper zierten, deutete er als Hämatome, und ab und zu zeugte eine Blutkruste davon, dass die Haut an jener Stelle aufgeplatzt gewesen war.
Bronstein war ganz allgemein mit seinem Erscheinungsbild nicht sonderlich zufrieden, doch so erbärmlich, befand er, hatte er noch nie ausgesehen. Seine Haut wirkte grau und ledern, sein Gesicht aufgedunsen und dennoch faltig. Sein Bauch wölbte sich unappetitlich über sein Schamhaar, und der kleine Herr Bronstein sah definitiv noch mitleiderregender aus als sonst. Bronstein zog instinktiv den Bauch ein, hielt die Luft an und bemühte sich, die Muskeln anzuspannen. Doch was ihm da aus dem Spiegel entgegenstarrte, das sah immer noch zum Heulen aus. Wann war er bloß so unansehnlich geworden? Sicher, auch früher wäre nie jemand auf die Idee gekommen, ihn einen Beau zu nennen, doch in einem derart katastrophalen Zustand war sein Leib niemals zuvor gewesen. Angeekelt griff sich Bronstein in seine Schwimmreifen und zerrte an ihnen, doch kaum ließ er sie los, da waberten sie zurück an ihren angestammten Platz, wo sie noch einen kleinen Moment wiefrisch aus der Form geholter Pudding vor sich hin zitterten, ehe sie schließlich zur Ruhe kamen. Bronstein ignorierte den bedrohlichen Bauchumfang und blickte eine Etage tiefer. „Jetzt hast du auch Spiegeleier“, flüsterte er, „und noch dazu sind das keine Hühner-, das sind bestenfalls Taubeneier.“
Bronstein seufzte tief und fühlte sich nun erst recht hundeelend. Die kleine Kabine schien mit einem Mal ausnahmslos von Melancholie erfüllt, und mit trauervollem Blick griff er nach dem Waschlappen, um ihn, während er ihn unter den Wasserhahn hielt, mit Seife einzureiben. Dann schloss er die Augen und vermied so, sich dabei zuzusehen, wie er seinen alten, schlaffen Körper wusch, der ihm zutiefst zuwider war. So musste sich Napoleon am Abend nach der Schlacht von Waterloo gefühlt haben, dachte er, während seine Hand mit dem Lappen kleine Kreise auf dem Oberkörper vollführte. Doch Napoleon hatte davor eben auch Jena, Auerstädt, Austerlitz und Wagram gesehen. Er aber, Bronstein, war von Cannae nach Philippi getaumelt, ehe er in Waterloo gelandet war. Sein Leben war eine einzige Niederlage, und eine, wie sich jetzt herausstellte, schmerzvolle noch dazu. Bronstein sah zu, dass er die Waschung so schnell wie möglich beendete, dann zog er eilends sein Nachthemd wieder an, verließ die Kabine und kroch schwer geschlagen in sein Bett
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