Taenzer der Nacht
zu schützen. Der Mann blieb mitten im prasselnden Regen ruckartig auf dem Bürgersteig stehen, schaute Malone mit seinem im grel len Licht einer Straßenlampe kantigen Gesicht an und sagte: „Nimm mich mit zu dir. Bitte.“ Malone erwiderte nichts und ging schnell weiter, genauso, wie er es mittlerweile gelernt hatte, voll Panik an Irren vorbeizugehen, die Reden hielten, und an Bettlern, die um Geld baten.
Zum Erntedankfest fuhr er nach Hause nach Ohio, mit der Bahn den Suquehanna entlang in der Dunkel heit, die sich in den Waldschneisen mit Schneeflocken füllte. Er nahm den langsamsten Weg nach Hause, wie ein Taucher, der sich Zeit nehmen muß, wenn er aus den Tiefen hochsteigt. Er war ganz krank vor Trauer. Er saß neben einem verängstigten College-Studenten, dessen größtes Problem es war, einen Notendurchschnitt zu erreichen, der gut genug war, ihm einen Platz an einer medizinischen Fakultät zu sichern; Malone hörte ihm zu, wie er von seinen Befürchtungen erzählte, und entspannte sich etwas. Er beobachtete, wie der Junge von seinen Eltern am Bahnsteig begrüßt wurde, und hatte plötzlich das Gefühl, daß er seinen Eltern nicht gegenübertreten könne. Aber als er im Haus seiner Schwester ankam, und das Knallen der Auto türen und die Rufe seiner Neffen und Nichten ihn im dichter werdenden Schneefall umschwirrten, ge nau so wie die jungen Hunde, die die Familie gerade angeschafft hatte, verflüchtigten sich diese Ängste. „Wann heiratest du denn?“ zwitscherte seine jüngste Nichte, als sie sich beim Festessen an ihn lehnte. „Warum hast du kein Auto?“ Das waren die beiden Dinge, die einen in den Augen einer fünfjährigen Amerikane rin zum Erwachsenen machten – und hatte sie damit so Unrecht? Er brachte einige Ausflüchte vor, während seine Eltern, die diesen Herbst nach Ohio zurückge kehrt waren, ihre Ohren spitzten; sie selbst hätten ihn aus der Zurückhaltung heraus, die in seiner Familie gegenüber den privaten Angelegenheiten anderer üblich war, nie danach gefragt. Sie glaubten, er schreibe ein Buch über Rechtswissenschaften. Später am Abend, als er am Kamin unter einer Schicht von Zeitungen im Herrenzimmer döste, füllte sich das Haus mit den Rufen der im ersten Stock spielenden Kinder und der im Eßzimmer kartenspielenden Erwachsenen; er schau te einen der Hunde an, und der Hund ihn, und er sagte zu ihm leise: „Ich bin schwul.“
Der Schnee rieselte durch die feinen Tannenzweige, die sich an die Fensterscheiben drückten, und er stellte sich vor, wie er auch auf all die Einkaufszentren auf den Hügeln um die Stadt herum fiel, voller Familien wie dieser, und er hörte draußen das Rauschen der Kombiwagen auf der Landstraße, voller Kinder in Eski momützen, die einander auf dem Schoß lagen und schliefen. Er lächelte über die Laune des Schicksals, die ihn davor bewahrt hatte, wie ein Gefangener sich darüber freut, daß er in Handschellen an der Schlange der wartenden Patienten vorbei zum Arzt gebracht wird, und er schlief ein. Als er spät in der Nacht wieder aufwachte, das Feuer schon zu Glut zusammengefallen war, und das ganze Haus auf einmal kühl und schweigsam, waren seine Lippen feucht und er dachte: ich habe von Frankie geträumt, und er hatte einen Moment lang das dringende Bedürfnis, unter irgendeinem Vorwand zum Flughafen zu eilen und nach New York zurückzufliegen, weil er es nicht mehr aushalten konnte ohne das, was ihm jetzt die Quelle seiner Lebenskraft zu sein schien: diese dunkeläugi gen, seelenvollen, jungen Männer, die mit ihren großen schönen Augen in schmuddeligen Gassen im Schein von Spirituosenläden an einem vorbeihuschen, in der frühen Dunkelheit dieser harten, unwirklichen Stadt.
Als er eine Woche später nach New York zurück kehrte, beladen mit guten Wünschen und sonstigem Krims krams, fand er Sutherland in der Mitte des Zim mers stehend, mit einer Schlammpackung im Gesicht, Ohrringen und einem roten Kleid, das bis zur Hüfte herunterhing – es erinnerte sehr an das Kostüm, in dem er zum Dinner-Tanzabend als La Lupe gegangen war – und die zehn Meter lange Telefonschnur um den Körper gewickelt. Er krümmte sich wie Laokoon unter dem Druck der Schlangen, und wandte Malone sein verschrecktes Gesicht zu. „Ich muß jetzt hier raus“, sagte er in den Hörer, „die Bank unter uns steht in Flam men und wir werden gerade evakuiert.“ Er häng te den Hörer auf und sagte, als er Malone würdevoll die Hand schüttelte: „Meine Schwester aus
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