Taenzer der Nacht
leisen Stimme, „ich muß dich wirklich derart vielen Leuten vorstellen.“ Malone saß amüsiert da, fasziniert von der eigenartigen Weisheit, die aus diesem Mann sprudelte, und war sich bewußt, daß er auch nirgend wo sonst hätte hingehen können. Es war halb eins, und er kannte niemanden in der Stadt außer seinem Lieb haber, vor dem er geflohen war.
„Alles in allem leben wir in gefährlichen Zeiten“, fuhr Sutherland fort und zündete sich noch eine Zigar re an, „von völliger philosophischer Sterilität, wir leben in einer brutalen und gefährlichen Epoche, in der es keine Werte mehr gibt, auf die man sich beziehen könnte, und man kann sich nur noch an ganz konkrete Dinge halten – einen Schwanz zum Beispiel“, seufzte er und klopfte seine Asche in einer Schale verblichener Ringelblumen ab. Er stand auf, ging zu einem Schrank hinüber und öffnete die Türen, um, wie der Graf von Monte Christo seinen sagenhaften Schatz, die ange sam melte Garderobe von fünfzehn Saisons in der Sub kultur zu enthüllen. Sie starrten für einen Moment schweigend auf die Regale voll bunter Pullis, einfacher und ausgewaschener Hemden, Malerhosen, Jeans mit Reißverschlüssen und Jeans mit Knöpfen, Armymüt zen, Unterhemden, geflochtener Gürtel, Holzfäller hemden und Dutzender TS hirts in allen Farben; Nylon-Windjacken neben braunen und schwarzen Lederjacken; und auf dem Boden in Reihen Arbeits stiefel, Cowboy s tiefel, Ingenieursstiefel, Arbeitsschuhe, Tramperschuhe, Baseballmützen, Bergarbeiterhelme; und in einem geflochtenen Korb zusammengerollt wie Schlangen die durchsichtigen Plastikgürtel, die Suther land eines Tages in einem Laden in der Canal Street entdeckt und vor einigen Jahren im schwulen New York und damit im ganzen Land modern gemacht hatte. Pfeifen, Tamburi n e, Wollmützen, Fliegerbrillen, Alu-Inhaler, Sonnenbrillen im „Waise Annie“- und im Flieger-Stil und große Perlmutt-Fächer lagen in einem weiteren Korb, die zu den diversen Ausstaffierungen gehörten, ohne die Sutherland in der letzten Saison nicht hätte ausgehen können.
„Aber nach einer Weile stellst du fest“, seufzte Sutherland – entmutigter Stimmung, weil er an diesem Abend auf dem Fest von jemandem abgewiesen wor den war, mit dem er sich schon seit zwei Jahren hatte unterhalten wollen –, „daß es außer diesem hier eigent lich nichts von Bedeutung gibt“, und suchte ein hell-und dunkelrotes Holzfällerhemd von Bloomingdale’s heraus und ließ es über einem Haufen von hellen TShirts aus einem Army-Discount-Laden in der Canal Street und dem Korb mit den transparenten Plastik gürteln hin und her schlenkern. Er setzte eine Baseball mütze auf und wandte sich vom Schrank ab. „Ist irgend was dabei, was du gerne anziehen würdest?“ fragte er. „Du mußt unbedingt aus diesen Tennis schuhen raus.“
Er warf Malone ein Paar Herman-Chemi-Gummi schuhe von Hudson’s in der Thirteenth Street hin. „Die sind doch viel robuster. Und was bleibt für unser einen?“ fragte er, als er sich wieder neben Malone hin setzte und ein Glas Pernod an die Lippen hob. „Was, könnte man auch fragen, gibt es denn überhaupt noch, wofür es sich zu leben lohnt? Warum soll man über haupt am Morgen aufstehen? Für dieses öde Ringel spiel amüsanter Verlogenheit? Diese schmuddelige bürgerliche Gesellschaft, die die Schüler des Aristo teles uns aufgehalst haben? Nein, wir können uns noch dazu entscheiden, wie die Götter zu leben, wie die Dichter. Was uns zum Tanz führt. Ja“, sagte er, und wandte sich Malone zu, „das ist alles, was übrig bleibt, wenn die Liebe weg ist. Tanzen.“ Und er deutete mit seiner Hand auf den Haufen von Platten und Kassetten hin, die sich in einer anderen Ecke des Raumes stapel ten. „In dieser Stadt gib es keine Liebe“, sagte er und blickte mit einem kühlen Gesichtsausdruck an Malone herunter, „nur Diskotheken, – und auch sie wechseln schnell unter dem unbarmherzigen Druck der kapita listischen Exploitation ... “ Er schaute Malone noch einen Moment an, und sagte dann ruhig: „Und was gäbe es für einen geeigneteren Weg, deine Erziehung zu beginnen, als dich mit ins Twelfth Floor zu neh men?“
Stattdessen schlief Malone in dieser und noch eine ganze Menge weiterer Nächte in diesen ersten Herbst wochen – denn wenn einem das Leben nichts bietet, bleibt man einfach im Bett – und hörte nur entfernt im Schlaf oder sah durch seine halboffenen, von den Wim pern fast verdeckten Augen
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