Taenzer der Nacht
Boston. Unser Bruder hat sich gerade drei Zehen mit dem Rasen mäher abgefahren, weil er die Raten seines Kre dits nicht zahlen konnte, meine andere Schwester hat Hepatitis, obwohl sie jetzt ihre Schule in Richmond abschließen soll, Mutter trinkt, Vater weigert sich, irgend jemanden zu sehen, und die Frau von gegenüber marschierte gestern in ihre Garage, ließ ihr Auto an und erstickte sich. Was ist bloß los mit diesem Land, um Himmels willen?“ sagte er und zog sich die roten Ohrringe ab. „Die Amerikaner sind einfach zu sensi bel.“
Er warf die Arme in die Luft. „Aber, Liebling, wie war es denn im Land der Väter? Es tut doch so gut, nach einer Scheidung zurück ins Elternhaus zu kom men. Wer sonst soll einen trösten?“ Aber als er Malone ein Glas Pernod reichte, sah er sein melancholisches Gesicht und sagte: „Ich hab’s dir ja gleich gesagt, du hättest nicht hinfahren sollen.“
Sie setzten sich, und Sutherland begann, seine Maske mit einem warmen Waschlappen zu entfernen, und Malone, der sich deprimierter denn je fühlte, konnte nicht umhin zu fragen: „Leidest du nicht manchmal darunter, schwul zu sein?“
„Mein Lieber, man muß mit dem Blatt spielen, das man auf der Hand hat“, sagte Sutherland, während er sein Gesicht begutachtete. „Was mich daran erinnert, daß ich bei Helen Auchincloss zum Bridge ver a bredet bin.“
„Was willst du damit sagen?“ fragte Malone besorgt.
„Ich meine“, sagte Sutherland, der beim leichtesten Anschein von Jammern, Selbstmitleid oder Sentimen ta li tät bei diesem oder jedem anderen Thema eiskalt wurde – denn unter seiner Frivolität war er hart wie Kruppstahl – „wenn die blinde Helen Keller durchs Leben gekommen ist, werden wir es wohl auch schaf fen.“
„Oh“, sagte Malone schwach und lehnte sich zurück.
„Du allerdings könntest ein etwas mißglücktes Exem plar von einem Schwulen sein“, sagte Sutherland und wandte sich wieder dem Spiegel zu. „Ach du liebe Güte, ich komme schon wieder zu spät.“
„Wohin gehst du denn?“ fragte Malone traurig.
„Ich soll zur Eröffnung von Teddy Ransomes Galerie in der Seventy-eighth Street, ich soll mit Helen Auchin closs Bridge spielen, ich soll den Blinden vorlesen, und um acht bin ich in East Hampton verabredet, aber wie du siehst, bin ich hier hängen geblieben“, sagte er und setzte sich seufzend mit den hellen Augen eines Koala bären wieder hin, „denn der Kammerjäger kommt.“
„Der Kammerjäger?“
„Ja. Erst vernichtet er die Schaben mit seinem Gift, dann vernichtet er mich, indem er sich an den Sack faßt. Er ist der göttlichste Puertoricaner, den du je gesehen hast. Der schönste Puertoricaner von New York – und Gott hat ihn diesem Block hier zugeteilt“, sagte er und verschüttete als Dankopfer für die Götter etwas Wein auf dem Teppich. „Das ist doch wirklich eine Auszeichnung“, sagte er und nahm den Hörer ab, um vier verschiedenen Leuten sein Bedauern darüber auszudrücken, daß er leider absagen müsse, weil er diesen exotischen Besuch erwarte. „Liebst du nicht auch diese Winternächte“, sagte er zu Malone, „in denen man so viele Schwänze abkriegt?“
Den ganzen Winter lang sagte Malone die vielen Ein la dungen zu Parties und Abendessen ab, die Suther land ihm vermittelte; bis er an einem frostigen Febru ar abend Sutherland im Oak Room traf, wohin Suther land oft nach einer oder zwei Stunden auf der Herren toilette im Grand Central Bahnhof ging und etwas trank, während er die Mitteilungen las, die er und frem de Männer sich von Kabine zu Kabine auf Toilet tenpapier geschrieben hatten. „Das Problem bei diesem hier“, sagte Sutherland in einer Wolke Zigaret ten rauch, während er seinen Martini zum Trinken an setzte, „waren seine Schuhe. Billige Schuhe, weißt du. Amerikanische Männer geben einfach kein Geld für Schuhe aus; in Europa ist das ganz anders. Ich fand seine Mitteilungen ganz traumhaft“, sagte er, während er noch einen Strom Rauch ausblies, „aber die Schuhe waren wirklich jenseits von gut und böse. Schau nicht hin“, murmelte er und schlug seine Augen geziert nieder, „aber der schönste Mann von Brookfield, Connec ticut, ist gerade hereingekommen. Er ist jetzt verheiratet und hat zwei Kinder, aber wir waren mal sehr ineinander verliebt. Wie der junge Scott Fitzge rald, findest du nicht? Fast ein Gibson-Junge, nein, schau jetzt nicht hin, ich sage dir, wann.“ Und Malone merkte, wie sich jemand hinter ihm hinsetzte.
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