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Tag der geschlossenen Tür

Tag der geschlossenen Tür

Titel: Tag der geschlossenen Tür Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rocko Schamoni
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und Karten bei Konzerten habe ich abgerissen.
    Aber das sind ja alles keine Lebensperspektiven. Wie könnte ich meinen Enkeln erzählen, dass ich ein erfülltes Leben als Kartenabreißer hatte? Lieber kriege ich keine Enkel, als ihnen das berichten zu müssen.
    Mit der kleinen Erbschaft, die Großmutter mir vor Kurzem gemacht hat, kann ich auch nur das Gröbste auffangen. Das selbst auferlegte Elend für ein Weilchen aufschieben. Jeden Monat bekomme ich eine magere Pension, ausreichend für meinen Vorruhestand, um noch ein Weilchen in den Sümpfen der Untätigkeit verweilen zu dürfen. Aufschub, um mein wahres Talent zu entdecken. Wenn ich das nicht bald geschafft habe, muss ich mich selber ins Heim einliefern lassen. Erben ist wie sterben, bloß ohne st.

Die Wunderwelt der Entfremdung
     
    I ch finde mich vor einem Supermarkt wieder und spüre, dass ich ihn betreten muss. Immer wenn ich nervös werde, wenn ich mich innerlich unklar oder zerrissen fühle, schaue ich mir Produkte an. Tauche ich ein in die Welt der von Maschinen erzeugten Wunder. In die Wunderwelt der Entfremdung. In die rückverzauberte Welt der Neuzeit. Früher schien die Welt an sich, der Kosmos und das Leben, unerklärlich. Heute sind sie erklärt. Entzaubert. Aber die Produkte, die wir selber herstellen, werfen neue Fragen auf. Nach dem schockierenden Erlebnis auf dem Heiligengeistfeld muss ich mich erden. Ich schlendere sehr langsam an den Regalen vorbei und lasse meinen Gedanken freien Lauf, warte auf ein Produkt, das mich einfängt. Stichwort Margarine. Vitaquell Omega 3. Ich nähere mich dem Stapel und nehme eine Packung in die Hand. Sie gefällt mir gut, klein, rechteckig, formschön, mit weißgelber Plastikhülle und rot-grüner Schrift darauf. Woher mag diese Margarine kommen? Wer hat sie erfunden und warum? Gab es nicht vorher schon genug Margarinen? Und wer war an ihrer Produktion beteiligt, also an dieser konkreten Packung hier in meiner Hand? Aus welchen Materialien ist die Verpackung hergestellt? Und die Farben für den Aufdruck? Wer hat die Aufdruckmaschinen hergestellt und wer die Stanzform für die Margarineverpackung und mit was für Maschinen? Und mit welchen Maschinen wurden wiederum diese Maschinen hergestellt? Eine unendliche Reihe von Maschinen, die wiederum andere Maschinen herstellen. Maschinen, die Arbeiten verrichten, die früher Menschen verrichtet haben. Auf der Verpackung werden die Inhaltsstoffe der Margarine aufgeführt. Rapsöl, Sonnenblumenöl, Leinöl, Palmöl, Palmkernfett, Meeresalgen, Farbstoff, Zitronensaft und Meersalz. Wer hat das Rezept dafür erfunden, und wie konnte er wissen, dass gerade dieses Rezept das richtige ist? Gibt es Forschungszentren, in denen herausgefunden wird, wie gut eine neue Margarine auf den menschlichen Körper wirkt und wie gut sie schmeckt? Wer liefert all die einzelnen Ingredienzen für die Margarine und woher kommen sie? Durch wie viele Hände ging diese Packung Margarine? Kennen diese Menschen sich? Und wie kamen sie auf die Idee, ein Teil des Räderwerks in der Produktion fettarmer Margarine zu werden? Sind das glückliche Menschen? Stellen sie sich die gleichen Fragen wie ich? Werden sie ihren Enkeln erzählen, dass sie ein glückliches, erfülltes Leben in der Margarineproduktion hatten?
    Ich könnte Stunden vor diesem Regal mit der Margarine in der Hand verbringen. Und einen Schritt nach rechts setzt sich das Wunder fort. Kakaomilch in Plastikflaschen. Ein rätselhafter Traum. Der Supermarkt ist für mich ein Ort ähnlich dem Deutschen Museum, mit dem Unterschied, dass nichts erklärt wird, sondern nur Fragen aufkommen und Mutmaßungen angestellt werden. Aber das ist ja gerade das Schöne. Die Antworten interessieren mich wie immer viel weniger als die Fragen.
    Zurück in meiner Wohnung setze ich mich glücklich vor meinen kleinen Stapel von Einkaufsgütern und versinke in ein ruhiges Betrachten. Andere Leute sitzen zu Hause vor dem Fernseher, ich sitze häufig vor solchen Stapeln und sehe mir die Gegenstände aus der Produktpalette der globalisierten Warenketten an. Die Möglichkeit, für wenig Geld jeden Tag die unterschiedlichsten Nahrungsmittel nach Hause tragen zu dürfen, nicht hungern zu müssen, sich auch noch gut unterhalten zu fühlen. Ich bin dankbar, das muss ich sagen. Ich weiß gar nicht genau, wem eigentlich. Ich beschließe, der Menschheit als Ganzes dankbar zu sein, das scheint mir am gerechtesten. Ist dies etwa nicht das Paradies, nach dem wir so lange

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