Tag der geschlossenen Tür
der Straße zu. Gibt es unter denen, die ich hier kenne, eigentlich jemanden, der nicht gescheitert ist? Wohl nicht an einem Ort, der sich größtenteils über seine Jugend definiert. Ich frage mich, wer von denen, die ich kannte, seinen Träumen nähergekommen ist. Kenne ich jemanden, dessen Vorstellungen von sich selbst wahr geworden sind? Der ein klares Bild von sich und seinen Zielen hatte und dieses Bild auch einlösen konnte? Und wenn schon – auch denen geht’s nicht besser. Wenn man das Leben, seine Winkelzüge, Sackgassen und Muster kennengelernt hat, wenn man weiß, wie Freundschaften und Beziehungen funktionieren, wenn man beobachtet hat, was Männer und Frauen und Kinder aus dem anderen machen und was die Gesellschaft wiederum aus diesen Familien macht, wenn man diese Standards endlos in Gesprächen und Gedanken durchgekaut hat, dann bleibt man am Ende ziemlich ausgetrocknet und um seine Argumente beraubt zurück und muss anerkennen: So ist es, so war es, und so wird es immer bleiben, ich habe keinen Einfluss auf das Geschehen, ich bin nur der kleinste Teil im großen Treiben, und wir fließen alle gemeinsam den Strom hinunter. Ich persönlich bin trotzdem zu stolz, um die überflüssige Zeit, die mir das verlängerte Leben in der postindustriellen Welt geschenkt hat, und meine ungenutzten intellektuellen Kapazitäten mit einer Krücke wie der Religion zu beleidigen.
Das Paradies von Odessa
I ch habe Nowak schon lange nicht mehr gesehen. Deshalb beschließe ich, ihm einen unangekündigten Besuch abzustatten. Sancho Pansa schaut nach seinem Don. Ich wähle den späteren Nachmittag als Besuchszeit, jetzt müsste Nowak auf jeden Fall wach sein. Bei seinem Haus angelangt, stelle ich zwar fest, dass die Jalousien heruntergelassen sind, aber sonderbarerweise seine Tür einen Spaltbreit offen steht. Das habe ich noch nie erlebt. Ich betrete mit einem etwas unguten Gefühl die Wohnung. Das sich bietende Bild ist eigentlich dasselbe wie immer, ein Meer aus Flaschen in der Küche, der Geruch nach Katzenklo, Nikotinränder an den Deckenrändern, wie in einer Wohnung gewordenen Lunge, Lebensgrind in allen Fugen. Im Schlafzimmer schließlich finde ich Nowak im Bett unter einer dicken Schicht von Decken, die zwar seine Mitte gut bedeckt, aber die Waden, die Füße und seinen Kopf frei lässt. Vielleicht friert der arme Mann nur am Bauch? Links neben seiner Matratze stehen eine kleine Stoffgiraffe und eine Calimero-Figur, rechts davon ein Affe aus Porzellan und eine vertrocknete Orange, auf die ein Paar hypnotische Augen gemalt sind. Diese vier Besucher starren Nowak an. Wie vier Untertanen, die mit flehentlichem Blick ihren König ansehen, auf dass er endlich erwachen möge, um sich ihre Bittstellereien anzuhören. Als ich ihm näher komme, stelle ich fest, dass er die Augen geöffnet hat und an die Decke starrt. Für eine Sekunde fährt der Schreck durch meine Glieder – der Mann ist tot –, doch dann sehe ich, wie Nowak seine Lippen bewegt, langsam, vor sich hin blubbernd, während ab und zu kleine Blasen vor seinem Mund zerplatzen. Ich bücke mich zu ihm hinunter.
»Nowak, was machst du denn hier?«
»Blubber, blubber …«
»Hey, was machst du hier?«
»Ohhhh. Ich warte. Die ganze Zeit warte ich.«
»Auf wen?«
»Hm … Auf alle.«
»Auf alle?«
»Jaja, auf alle.«
»Wo sind denn alle?«
»Ja, wo sind denn alle?«
»Ich glaube, alle sind zu Hause.«
»Aha, aha. Sag ihnen, sie sollen kommen. Alle sollen bitte kommen. Es gibt Arbeit.«
»Natürlich, Nowak, natürlich.«
»Mein Freund, ich warte auf dich, denn wir müssen endlich anfangen zu arbeiten, weißt du das?«
Ich frage mich, ob er ernsthaft krank ist. Ob er phantasiert. Ob das alles hier ein Scherz ist. Vielleicht will er mich nur wieder rumkriegen für irgendeine miese Handlangerei.
»Was gibt es denn zu tun, Nowak?«
»Habe Geschäftsidee.« Das erste Mal richtet er seine Augen auf mich und blickt mich durchdringend an. Er spricht leise, aber dennoch in klaren Worten zu mir.
»Eine Geschäftsidee …«
»Ja ja, schon klar, aber welche?«
»Mein Freund, was passiert mit den Pennern, die jedes Jahr in deutschen Städten sterben und die keine Angehörigen haben, die für eine Beerdigung aufkommen könnten?«
»Das weiß ich nicht, Nowak.«
»Sie werden verbrannt, und der Staat muss bezahlen.«
»Ja, und?«
»Das Verbrennen ist teuer. Das kostet jedes Jahr Millionen.«
»Ja und?«
»Ich habe eine Verbindung nach Rumänien,
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