Tag der geschlossenen Tür
ziemlich lustig fand, habe ich es geschafft, dich zu vergessen. Aber heute standen wir uns auf einmal gegenüber, ich bin ziemlich erschrocken, als du dich umgedreht hast.«
»Lustig fandst du das mit dem Brief also?«
»Na ja, jemandem einen Abschiedsbrief zu schreiben, den man gar nicht kennt, das ist doch irgendwie lustig, oder?«
»Ich fand’s eher unheimlich.«
»Das wollte ich nicht.«
»Wieso hast du mich nicht vorher angesprochen?«
»Ich hab mich nicht getraut.«
Sie steht auf und legt sich ein großes Handtuch um die Schultern.
»Weißt du, ich fand das sehr schön gerade, aber ich möchte, dass du jetzt gehst.«
»Ja, das möchte ich auch.«
»Wie bitte?«
»Ich möchte jetzt auch lieber gehen.«
Abrupt zwängt sich eine Ernüchterung zwischen uns, der Alkohol, das Adrenalin, das Endorphin, das Oxytocin, all diese Chemikalien sind absorbiert und machen den Blick auf eine vertrocknete Landschaft frei. Zwischen uns war nichts, ist nichts und wird niemals etwas sein. Bis auf die Erinnerung an einen großen, brennenden Moment der Lust.
Zeit im Wandel der Zeiten
I ch sitze an einem Tisch auf dem Bürgersteig beim Café Stenzel und trinke schwarzen Tee. Besser kann man nicht sitzen als hier, wenn man sein Leben an sich vorbeiziehen lassen möchte. Ein perfekter Platz zum täglichen Sterben. Mein Platz ist nah an der Mauer und halb verborgen hinter einem kleinen Kletterefeu, sodass man mich von der Straße aus kaum sehen kann. Aber ich habe die komplette Sicht über all jene, die vorbeikommen. Ein endloser Strom von Menschen, auf dem Weg zu nur ihnen bekannten Zielen, die meisten von ihnen kenne ich nicht, viele sind erst in letzter Zeit in dieses Viertel gezogen, seitdem es so angesagt ist, zahlen überhöhte Mieten und fühlen sich froh, endlich dabei zu sein. Zwischen all den Fremden wandeln wie untergeschummelt die alten Viertelbewohner, Zeitschemen, die ewigen Verdächtigen von gestern. Die, die ich vom Sehen kenne, vom Zunicken. Und die, die ich mal kannte, mit denen ich Zeit verbracht habe und von denen ich mich nach beiderseitigem Anerkennen wieder entfernen durfte. Wenn man sich Zeit dafür nimmt, sieht man das Alter in den Gesichtern derer, die man sonst nicht mehr betrachtet, deutlich hervortreten.
Zwischen einigen Fremden entdecke ich Sina. Ich kenne sie seit fast zwanzig Jahren. Sie war früher schon haltlos gewesen und den Drogen zugewandt, aber sie hatte einen so wunderbaren fliegenden Geist, dass der gesamte Dreck des Lebens an ihr abzuprallen schien. Jetzt fehlen ihr die meisten Zähne, und die Haut ist grob geworden. Außerdem hat sie Herpes, der Virenbote, geküsst. Sie lebt vom Schnorren, früher gab man ihr aus Freude, jetzt aus Mitleid. Trotzdem sehe ich in ihren Augen jenes Schweben, das ihr bis jetzt noch keine miese Spritze nehmen konnte.
Ich trinke meinen Tee. Der Mann vom Bioladen wankt vorbei, ich hatte schon immer das Gefühl, dass sein einziger Grund vorwärtszugehen ein ominöses Übergewicht im Vorderkopfbereich sein müsse, das ihn endlos voranzieht. Seine Hautfarbe macht den Eindruck, als hätten ihn zwanzig Jahre Biokost nicht eben gesünder gemacht. Zwischen all der Weizenkleie, den Tofuwürstchen und dem Bärlauchaufstrich sind ihm wohl seine Hoffnungen verwelkt. Ein paar Popper in Fakepunkklamotten rennen vorbei und reden über eine »geile Kampagne für Jägermeister«. Dann wieder endlose Ströme von Flaneuren, Touristen aus dem Umland, die sich darüber unterhalten, bald hierherzuziehen. Der persische Typ mit der Sofortbildkamera und der hohen Stimme schleicht ziellos durch die Gegend und überlegt, wem er ein Foto andrehen könnte. Komischerweise hat er sich gar nicht verändert, wieso hat Gott gerade ihn vom Altern verschont? Er wirkt wie ein Foto seiner selbst von vor zwanzig Jahren, vielleicht ist er der Herr der Zeit? Vielleicht altern gerade die, die er fotografiert? Weil er mit seinem Apparat die Lebenszeit anderer Menschen absaugt, um sie selber zu verwenden. Das ist sein Trick! Ich möchte lieber kein Foto von ihm, dann kann man später auch nicht sehen, wie jung ich einmal war. Für immer alt.
Einige Autonome schlorren vorüber. Später mein ehemaliger Fahrschullehrer. Ich war umsonst bei ihm. Ich bestelle mir einen weiteren Tee, rühre ihn um, starre in den milchigen Strudel der Zeit, der sich in den dunklen Schlieren bildet, lasse ein paar Zuckerkörner wie eckige Kometen in das flüssige Universum tauchen und wende meinen Blick wieder
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