Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tag der Vergeltung

Tag der Vergeltung

Titel: Tag der Vergeltung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liad Shoham
Vom Netzwerk:
er es nicht gehört.

25
    Merav stand in der Schlange des Imbissladens unter ihrem Büro und wollte sich einen Salat holen. Es ging nur schleppend voran, dabei war sie eh schon auf dem Sprung. Um halb fünf musste sie Gili vom Kindergarten abholen und durfte sich auf keinen Fall verspäten. Schließlich war sie allein. Keiner würde ihr den Weg abnehmen, keinem konnte sie irgendwelche Verpflichtungen aufhalsen. Auch heute würde sie ihr Mittagessen schnell vor dem Computer hinunterschlingen.
    Als sie zum ersten Mal hörte, wie seine Stimme ihren Namen rief, meinte sie, im Kopf nicht ganz klar zu sein, sie musste sich verhört haben. Er saß ja im Gefängnis. Wegen Verdacht auf Vergewaltigung. Demzufolge, was ihr vom Bekannten eines Bekannten, der wiederum einen Bekannten bei der Polizei hatte, zu Ohren gekommen war, sah es schlecht für ihn aus, und die Chance, dass er demnächst herauskäme, war gering. Bei der Nachricht von seiner Verhaftung war sie außer sich gewesen. Ja, es hieß immer, wir würden nicht einmal diejenigen wirklich kennen, die uns am nächsten stehen, jeder habe seine Geheimnisse, dennoch hatte sie nicht einen Moment geglaubt, dass Ziv eine Vergewaltigung begangen hatte. Nicht Ziv. »Merav«, vernahm sie wieder leise ihren Namen, drehte sich um, und da stand er neben ihr. Wie war er hierhergekommen?
    »Was machst du hier?«, flüsterte sie, sie fühlte sich überrumpelt und schreckte vor ihm zurück. So nah hatten sie schon lang nicht mehr beieinander gestanden. »Sie haben mich entlassen«, sagte er, »sie haben eingesehen, dass ich es nicht gewesen bin, dass sie sich geirrt haben.«
    Als er verhaftet worden war, hatte ihr Scheidungsanwalt gesagt, dass sie jetzt alles bekommen könne, was sie wolle: das volle Sorgerecht, außerdem könne sein Umgang mit dem Jungen auf ein Mal pro Woche beschränkt werden, ohne Übernachtung und nur unter Aufsicht des Jugendamts. Darüber hinaus bestehe die Möglichkeit, den Unterhalt aufzustocken. »Die Verhaftung schlägt in Ihre Auseinandersetzung wie eine Atombombe ein«, hatte er mit unverhohlener Zufriedenheit gesagt. Dennoch freute sie sich, dass er frei war und ihm nicht länger eine Vergewaltigung unterstellt wurde. Nicht allein, dass Gili sein Leben lang als Sohn eines Vergewaltigers gebrandmarkt gewesen wäre, nicht allein wegen Ziv selbst, sondern auch, weil es bestätigte, was sie insgeheim gewusst hatte: Ziv war kein schlechter Mensch. Er war nicht dazu imstande, jemanden vorsätzlich so zu verletzen. Sie war immer noch stocksauer, dass er fremdgegangen war, ihr monatelang den wahren Grund seiner Kündigung vorenthalten hatte, sie als Familie in eine wirtschaftliche Krise gestürzt und ihre Ehe zerstört hatte. Immer noch zahlte sie die Schulden ab, die sich in der Zeit seiner Arbeitslosigkeit angehäuft hatten, vom ausbleibenden Unterhalt gar nicht zu reden. Seit dem Tag ihrer Scheidung hatte Ziv nicht regelmäßig zahlen können.
    Als ihr eine Freundin vorgeschlagen hatte, Rechtsanwalt Guy Bernstein anzuheuern, hatte sie nicht einen Moment gezögert. Er war für seine Skrupellosigkeit bekannt. Die Rabbinatsgerichte würden die Männer bevorzugen, hatte er sie aufgeklärt. Wolle sie aus dieser Ehe etwas herausschlagen und nicht dabei zusehen, wie Ziv sich die volle Sparbüchse unter den Arm klemmte, obwohl er fremdgegangen war, durfte sie kein Mitleid mit ihm haben. »Sie haben keine Wahl«, sagte er immer wieder, wenn sie Anzeichen von Schwäche zeigte oder mit dem einen oder anderen Schritt haderte, den er ihr vorschlug. Da sie an seine juristische Einschätzung glaubte, auf Ziv wütend war und ihm wehtun wollte, stimmte sie jedem Schritt zu. Daher hatte sie beispielsweise Anzeige wegen Körperverletzung gegen ihn erstattet. Er hatte sie geschubst, das stimmte, und sie war erschrocken und verängstigt angesichts der urplötzlichen Brutalität gewesen, doch ein Teil von ihr hatte immer gewusst, dass es sich um eine kurzzeitige Entgleisung gehandelt hatte, um einen Ausbruch, den er im Nachhinein tief bereute.
    * * *
    »Wir müssen reden«, sagte er und trat näher zu ihr, versuchte den Abstand zu verringern, den sie zwischen sich und ihn gebracht hatte. Sie musterte ihn, überlegte, was sie sagen sollte.
    Sie hatten sich bei der Armee kennengelernt. Sie war Sekretärin des Bataillonskommandeurs gewesen, er Offizier bei den Pionieren desselben Bataillons. Er war ins Büro gekommen, um den Bataillonskommandeur von der Verurteilung eines Soldaten

Weitere Kostenlose Bücher