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Tag der Vergeltung

Tag der Vergeltung

Titel: Tag der Vergeltung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liad Shoham
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ihm langweilig geworden, er hatte den Motor gestartet, war in das Wohngebiet von Adi Regev gefahren und hatte auch dort herumgesessen. Um achtzehn Uhr hatte er sie auf ihrem Heimweg von der Arbeit zu Gesicht bekommen. Die Mühe, sie anzusprechen, hatte er sich natürlich nicht gemacht. Was hatte er ihr zu sagen? Er hatte noch einige Runden ums Haus gedreht, wollte nachsehen, ob sich möglicherweise Jaron Regev hier aufhielt, doch auch er war nicht zu sehen. Wären sie sich über den Weg gelaufen, hätte er ihm gegenüber eventuell zugegeben, dass auch er eine Obsession entwickelt hatte. Um zwanzig Uhr, als Leah ihn angerufen hatte, um sich zu erkundigen, wohin er verschwunden sei, war er nach Hause gefahren.
    Nun war er wieder hier. Saß vor ihrem Haus, ohne Absicht, allein um sein eigenes Haus zu verlassen, da er nicht mehr wusste, was er ohne Arbeit mit sich anfangen sollte. Verbrecher kehren an den Ort des Verbrechens zurück, lautete die abgedroschene Redewendung – Polizisten offenbar auch. In seiner Verzweiflung stützte er den Kopf aufs Lenkrad.
    Es klopfte an der Fensterscheibe, und er schreckte auf. Eine alte Frau bedeutete ihm, das Fenster herunterzulassen.
    »Herr Polizist?«, wandte sie sich an ihn, halb fragend, halb feststellend.
    Er nickte.
    »Ich möchte eine Beschwerde einreichen«, machte sie durch den Spalt deutlich, den er ihr in der Fensteröffnung einräumte. Bis zu dem Zeitpunkt hatte er sich noch gar keine Gedanken darüber gemacht, wie er nach außen wirkte, so sehr war er in sich und seine Probleme vertieft gewesen. Vielleicht dachte sie, er würde jemandem auflauern? Über das Wohnviertel wachen, damit es nicht weglief? Beinahe musste er grinsen.
    »Wenn die Dame sich beschweren will, schlage ich vor, dass Sie sich an die Polizei wenden«, sagte er lustlos und führte seine Hand zum Autoschlüssel, als wollte er den Motor starten und losfahren.
    »In diesem Haus«, sagte sie, ohne von seiner Bemerkung Notiz zu nehmen, und deutete auf die andere Straßenseite, »im vierten Stock wohnt ein junger Mann namens Ilan Meron, der die Haufen seines Hundes nicht von der Straße aufsammelt. Anstandshalber muss ich sagen, dass er sie anfangs, als er vor anderthalb Monaten hier eingezogen ist, aufgesammelt hat. Doch seitdem handelt er in dieser Angelegenheit grob fahrlässig … So geht das jetzt schon mehr als zehn Tage, Nacht für Nacht …«
    »Verzeihen Sie, meine Dame, ich habe es ziemlich eilig«, schnitt er ihr das Wort ab, »ich rate Ihnen, sich in dieser Sache an die Stadtverwaltung von Tel Aviv zu wenden …«
    »Das ist es ja, genau das habe ich gemacht«, unterbrach sie jetzt ihn, »schon zweimal habe ich dorthin geschrieben. Ich habe auch beim Ordnungsamt angerufen. Nichts hilft. Sie sind nicht dazu bereit, um ein Uhr nachts Inspekteure zu schicken, um die Uhrzeit geht er nämlich mit seinem Hund Gassi …«
    »Ich empfehle Ihnen, es immer wieder zu probieren. Das wird sich schon regeln«, entließ er sie mit einem unverbindlichen Satz und startete den Motor.
    Auf einmal hielt er inne. Erneut betrachtete er die Dame, die neben dem Auto stand. Sie war schon hochbetagt, über siebzig, wenn nicht gar achtzig. Was machte eine Frau ihres Alters zehn Tage hintereinander um ein Uhr nachts?
    Er schaltete den Motor ab und stieg aus. Auch wenn es nichts bringen würde, schaden konnte es nicht. Er hatte ohnehin nichts zu tun.
    Erst als er ihr gegenüberstand, fiel ihm auf, wie klein sie war. Auch ihr entging der Größenunterschied nicht, und sie machte ein paar Schritte rückwärts.
    »Ich will Ihnen den Gefallen tun und werde Ihre Beschwerde aufnehmen«, sagte er – sie war selig.
    * * *
    Er saß allein im Wohnzimmer, lauschte, wie Frau Glaser in der Küche hantierte. Obwohl er ihr gesagt hatte, dass er weder etwas essen noch trinken wolle und seine Zeit knapp bemessen sei, kam er recht zügig dahinter, dass sein Schicksal besiegelt war.
    Von den Fotos über der dunklen Kommode, die im Wohnzimmer stand, lächelten ihn ihre Angehörigen an. Der Mann auf den älteren Fotos – die Nachfrage erübrigte sich – schien ihr verstorbener Ehemann zu sein. Nun wohnte sie allein.
    Die Einrichtung erinnerte ihn an die seiner Eltern, die vor Jahren verstorben waren; diese unverhoffte Begegnung berührte ihn. Frau Glaser und seine Eltern schienen verschiedener Herkunft zu sein, dennoch war diese Wohnung der seiner Kindheit ziemlich ähnlich: die schweren Möbel, die Piqué-Decken, die über die Sessel

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