Tag der Vergeltung
passiert, macht es einen Unterschied, ob jemand hinschaut.« Er war unschlüssig, ob er ihr auf den Zahn fühlen sollte: War ihr in der Nacht der Vergewaltigung etwas aufgefallen? Doch er entschied, noch ein wenig abzuwarten und zunächst einmal ihr Vertrauen zu gewinnen.
»An und für sich gehen Sie und ich ähnlichen Beschäftigungen nach. Wenn Sie wüssten, wie viele Stunden ich damit verbracht habe, jemanden zu beobachten … Vielleicht sollten wir Sie überhaupt für die Polizei rekrutieren«, schmierte er ihr Honig um den Bart, und sie lohnte es ihm mit einem Lächeln.
»Darf ich Ihnen etwas erzählen, Polizist Nachum?«, fragte sie und beugte sich leicht zu ihm. »Sie können mir alles erzählen, was Sie wollen«, erwiderte er und blickte ihr in die Augen.
Frau Glaser stand auf, ging auf den Balkon und holte unter dem Liegestuhl eine Schachtel hervor.
»Davon habe ich niemandem etwas erzählt …«, sagte sie, und zu seiner Verblüffung holte sie ein Mordsteil von einem Fernglas aus dem Karton hervor.
»Damit habe ich den Rowdy dingfest gemacht, der hinter seinem Hund nicht sauber macht«, sagte sie und reichte es ihm.
Er begutachtete es von allen Seiten, um sich zu vergewissern, dass es das war, wofür er es hielt. Nein, er irrte sich nicht – es war nicht irgendein Fernglas, sondern ein Hightech-Fernglas mit Nachtsicht-Funktion!
Resolut nahm Sarah Glaser ihm das Fernglas wieder aus der Hand. Er behielt sie im Auge und sah, mit welcher Behutsamkeit sie es zurück in die Schachtel beförderte. Sie empfand offenbar tiefe Reue – sie hatte sich von ihm verleiten lassen und etwas preisgegeben, das sie vor anderen zweifellos geheimhielt.
»Lassen Sie uns noch einmal auf Herrn Ilan Meron und seinen Hund zurückkommen. Deshalb sitzen wir ja hier, nicht wahr?«, sagte sie und nahm ihm gegenüber Platz.
»Vor zwei Monaten hat sich im Hof hinter diesem Haus eine Vergewaltigung abgespielt«, sagte er mit stoischer Ruhe.
Entsetzt hielt sie sich die Hand vor den Mund.
»Eine junge Frau ist brutal vergewaltigt worden«, sagte er, um sicherzustellen, dass es bei ihr ankam.
»Ja, ich weiß«, sagte sie schließlich und gab einen Seufzer von sich, »das arme Mädchen.«
Er studierte jede Regung in ihrem Gesicht. Ihre Mimik hatte sich in dem Moment verändert, als er die Vergewaltigung angesprochen hatte. Sie redete auch nicht mehr wie ein Wasserfall.
»Haben Sie in der Nacht eventuell auch etwas gesehen?«
»Nein«, sie schüttelte energisch den Kopf, »das habe ich schon dem Polizisten gesagt, der hier war. Ich habe geschlafen. Das war spät. Ich habe nichts gesehen.«
Er ließ sie nicht aus den Augen, doch sie wich seinem Blick aus. Sie hatte ihm auf die Nase gebunden, dass sie nachts wach war. Sollte er sie daran erinnern? Vorerst lieber nicht, damit sie nicht in die Defensive ginge.
Schweigend saßen sie sich gegenüber. Als sie einen Schluck von ihrem Tee nahm, fiel ihm auf, dass ihre Hand leicht zitterte. Verheimlichte sie etwas? Sollten die Dinge so liegen, musste er behutsam vorgehen. Sein Übereifer und seine Ungeduld hatten ihm bereits genug geschadet.
»Was Sie mir hier sagen, bleibt unter uns«, sagte er, »keiner wird etwas davon erfahren. Sie haben mein Wort.«
Sie streckte den Arm aus und nahm aus einem Kästchen, das auf der Kommode neben ihr stand, ein Papiertaschentuch, um sich die Augen zu trocknen.
»Ich schäme mich so sehr …«, sagte sie.
Er war ganz Ohr, krallte die Finger immer fester um das heiße Teeglas, während sie ihm schilderte, was in jener Nacht vorgefallen war – wie sie vom Badezimmer aus, das zur anderen Seite hinausging, die Vergewaltigung mitangesehen hatte, wie sie dieses Schauspiel gelähmt, verängstigt hatte. Hinten am Arm des Mannes habe sie eine große Tätowierung gesehen. Er leerte das Glas mit einem Mal aus, und der Tee verbrannte ihm die Kehle.
»Das ist in Ordnung, das ist vollkommen verständlich«, tröstete er sie, als sie zum Ende gekommen war, sich wiederholt entschuldigte und ihm sagte, wie sehr sie sich schäme.
Obwohl er wusste, dass die Chance gering war, holte er aus seiner Tasche ein Foto von Ziv Nevo und zeigte es ihr. »Ist das der Mann, den Sie gesehen haben?«
Sie nahm das Foto und sah es sich genau an. Er verfolgte genauestens ihr Mienenspiel.
»Schwer zu sagen«, sagte sie schließlich.
»Versuchen Sie es, es ist sehr wichtig«, bat er sie.
»Ich weiß nicht. Vielleicht. Vielleicht auch nicht.«
* * *
Er setzte sich vor
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