Tag der Vergeltung
gebreitet waren, die kleinen Andenken von ihren Auslandsaufenthalten, die schweren Vorhänge und vor allem das Naphtalin, das in der Luft lag. Sein Vater war an einer schweren Krankheit gestorben, als Eli gerade bei der Polizei in der Einsatzmittelverwaltung arbeitete, und hatte keinen blassen Schimmer davon gehabt, dass der Sohn seinen Traum verwirklichen und zum Aufstiegslehrgang geschickt werden würde. Seine Mutter, die sich ihr ganzes Leben bester Gesundheit erfreut hatte, war nur zweieinhalb Jahre später an einem Herzinfarkt gestorben.
Er stand auf und ging zum Balkon. Einen solchen Balkon hatten auch seine Eltern gehabt. Selbst der Liegestuhl kam ihm bekannt vor.
Er prüfte vorsichtig, wie viel man von hier aus durch die Jalousie, die sich verstellen ließ, erspähen konnte – und war enttäuscht. Der Balkon lag zur Straße. Die Vergewaltigung hatte sich auf der anderen Seite ereignet. Frau Glaser konnte von hier aus unmöglich etwas gesehen haben.
An dem Abend, als der Fall ins Rollen gekommen war, hatte er seine Ermittler angewiesen, die einzelnen Wohnungen abzuklappern und die Nachbarn zu befragen. Bei diesen Nachforschungen war er nicht persönlich dabei gewesen. Er hatte es für überflüssig gehalten und war lieber am Tatort bei den Leuten vom gerichtsmedizinischen Labor geblieben, um deren Arbeit zu überwachen. Seine Ermittler waren mit leeren Händen zurückgekehrt. Keiner habe etwas gehört, keiner habe etwas gesehen, sagten sie. Die Vergewaltigung hatte sich spät nachts ereignet, und Adi Regev hatte ihm gesagt, der Täter habe ihr den Mund zugehalten, sodass sie nicht laut schreien konnte.
»Herr Nachum?«, hörte er Frau Glaser hinter sich rufen.
Sie platzierte ein zierliches Glas Tee mit Unterteller vor ihm und ein Schälchen vom selben Service mit Keksen. Auch wenn sie sich entschuldigte, dass sie nichts anderes im Haus habe und nicht auf Gäste eingestellt sei, war ihr Blick unmissverständlich: Sie würde sich nicht auf ein Gespräch einlassen, bevor er sich nicht wenigstens einen Keks in den Mund gesteckt, ihn schön gekaut und runtergeschluckt hatte.
Wie ein gehorsames Kind verspeiste er einen Keks und lobte ihn – er war in der Tat nicht zu verachten – und hörte sich geduldig an, dass es die Lieblingssorte von Avigail sei, und noch weitere interessante Einzelheiten aus dem Leben ihrer Enkelin.
»Lassen Sie uns für einen Moment auf Ihre Beschwerde zurückkommen«, unterbrach er sie in ihrem Redefluss.
»Ja, sicher, ja, sicher. Wie ich Ihnen schon sagte, der junge Mann heißt Ilan Meron, er ist um die dreißig, nach seiner Kleidung zu urteilen, würde ich ihn für einen Rechtsanwalt halten … Notieren Sie sich das?«
»Zunächst würde ich gern die Sache an sich verstehen. Sie sagen, dass er gegen ein Uhr nachts mit dem Hund rausgeht …«, versuchte er das Gespräch zu steuern.
»Genau! Er geht mit dem Hund raus und lässt den Haufen liegen!«, frohlockte sie.
»Und woher wissen Sie das?«
Sie warf ihm einen Blick zu, in dem nicht nur Verblüffung über die Frage lag, sondern auch ein gewisses Maß an Kränkung darüber, dass er ihre Zeugenaussage in Zweifel zog.
»Sefi, mein Mann, ist vor zwei Jahren gestorben«, seufzte sie, »und seitdem, wie soll ich es sagen, kann ich nur schwer einschlafen …«, antwortete sie, so schien es ihm, nach kurzem Zaudern.
»Und Sie sitzen hier und schauen auf die Straße?«, fragte er und zeigte auf den Liegestuhl, der auf dem Balkon stand.
»Wissen Sie, in meinem Alter … Wenn ich die Straße beobachte, komme ich ein wenig zur Ruhe und die Zeit geht vorüber …«, sagte sie und senkte leicht den Blick.
Er schaute sie schweigend an, wusste er doch am besten, wovon sie da redete.
»Frau Glaser, ich zolle Ihnen meinen Respekt«, besänftigte er sie, »dass Sie die Straße im Auge behalten, dass es Sie kümmert, was sich da abspielt. Die jungen Leute von heute schert es wenig, was vor ihrer Haustür passiert.«
»Dieses Viertel bedeutet mir etwas. Ich wohne schon seit vierzig Jahren hier, hier habe ich meine Kinder großgezogen. Glauben Sie mir, die Zustände werden immer schlimmer. Genau wie Sie sagen, die Leute schert es wenig. Daher halte ich mich immer auf dem Laufenden«, pflichtete sie ihm eilig bei.
»Sie haben sicher so einiges zu erzählen …«, versuchte er sie anzuspornen, aber sie lächelte nur schüchtern wie ein junges Mädchen. »Machen Sie so weiter … Die Polizei ist auf Leute wie Sie angewiesen. Wenn etwas
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