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Tag des Opritschniks, Der

Tag des Opritschniks, Der

Titel: Tag des Opritschniks, Der Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Sorokin
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dem Gossudaren und der Gossudarin, und hernach ward getafelt im Facettenpalast, mit der Kremlsuite und dem Engsten Kreis. Jetzt kommen bis zum Fest der Darstellung desHerrn keine Feiertage mehr. Ein Werktag am anderen. Es gibt viel zu tun.
    »Gott stehe auf, dass seine Feinde zerstreut werden«, liest Vater Juvenalius.
    Wir schlagen das Kreuz und verneigen uns. Ich bete zu meiner Lieblingsikone: Spas Jaroje Oko, dem Erlöser mit dem Grimmigen Auge. Mein Blick hält dem Seinen, dem unverwandten, nicht stand. Furchtgebietend ist unser Erlöser, unerbittlich sein Gericht. Aus der rüden Strenge seiner Augen gewinne ich Kraft für den Kampf, befestige meine Gesinnung, erziehe meinen Charakter. Schüre den Hass auf die Feinde. Schärfe meinen Verstand.
    Auf dass die Widersacher des Herrn und unseres Gossudaren zerstreut werden.
    »Und gewähre uns den Sieg über die Feinde …«
    Feinde gibt es sonder Zahl, das ist wohl wahr. Kaum dass Russland aus der Grauen Asche erstanden und zu sich gekommen war, kaum dass vor sechzehn Jahren Nikolai Platonowitsch, unseres Gossudaren lieber Vater, den ersten Stein zum Fundament der Westmauer gelegt und wir begonnen hatten, uns das äußere Fremde vom Halse zu halten und den inneren Schweinehund – schon kamen die Feinde aus allen Ritzen gekrochen als ein giftiges, tausendfüßiges Geschmeiß. Fürwahr: Eine große Idee gebiert einen gewaltigen Widerstand. Feinde, äußere wie innere, hatte unser Staat zu allen Zeiten, doch nie zuvor hat sich der Kampf mit ihnen so zugespitzt wie in der Periode der Auferstehung des Heiligen Russland. Nicht wenige Köpfe sind in diesen sechzehn Jahren auf der Schädelstätte beim Kreml gerollt, nicht wenige Züge voll mit Staatsfeinden und ihrer Sippschaft hinter den Ural gedampft, nicht wenig rote Hähne haben auf den Dächern ach so hoher Herren im Abendlicht gekräht, nicht wenige Wojewoden auf der Streckbank in der Geheimen Kanzlei gefurzt, nicht wenige anonyme Briefe sind im Postkasten der Abteilung Schuld und Sühne auf der Lubjanka gelandet, nicht wenigen Geldschneidern ward das Maul mit ihren schändlich gehorteten Scheinen gestopft, nicht wenige Sekretäre hat man gar heiß gebadet, nicht wenige fremdländische Gesandte mit den drei gelben Merins, den »Schandwagen«, aus der Stadt hinausbefördert, nicht wenige Zeitungsschreiber mit Entenfedern im Arsch vom Fernsehturm Ostankino gestürzt, nicht wenige aufwieglerische Federfuchser in der Moskwa ertränkt, nicht wenige Bojarenwitwen nackt und ohnmächtig im räudigen Schafspelz ihren Erzeugern vor die Tür geworfen …
    Und jedes Mal, wenn ich mit einer Kerze in der Hand in dieser Kathedrale stehe, befällt mich derselbe heimliche, aberwitzige Gedanke: Was, wenn es uns nicht gäbe? Käme unser Herr und Gebieter denn auch so zurecht? Allein mit den Strelitzen, der Geheimen Kanzlei und dem Kremlwachregiment?
    Und während der Chor singt, gebe ich mir selbst leise flüsternd die Antwort: Nein!

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    EIN ALLTÄGLICHES MITTAGESSEN im Weißen Palais.
    Wir sitzen an langen Tischen. Blankes Eichenholz. Die Diener tragen auf: Kwass von Zwieback, dicke Kohlsuppe, Roggenbrot, gesottenes Rind mit Lauch, Grützbrei. Beim Essen wird leise gesprochen, wir reden über das, was ansteht. Dabei kommen unsere tonlosen Glöckchen ins Schaukeln. Jeder Flügel der Opritschnina hat so sein Programm: Jemand hat in der Geheimen Kanzlei zu tun, der andere in der Gelehrtenkanzlei, noch wer in der Auswärtigen oder der Handelskanzlei.
    Bei mir liegt heute dreierlei an.
    Als Erstes muss ich mir die Gaukler und Faxenmacher vorknöpfen, ihre neue Nummer zum Festkonzert abnehmen.
    Als Zweites einen Stern auslöschen.
    Als Drittes in besonderer Angelegenheit die Wahrsagerin Praskowja zu Tobol aufsuchen.
    Ich sitze auf meinem angestammten Platz, dem vierten rechts vom Alten. Ein Ehrenplatz. Nur Schelet, Samosja und Jerocha sitzen noch näher zu ihm. Unser Ältester ist ein stattlicher, kräftiger Mann mit jugendlichen Gesichtszügen, obgleich vollständig ergrautem Haar. Es ist eine Freude, ihm beim Essen zuzusehen: wie ruhig er tafelt, wie gründlich. Der Alte ist unser Fundament, die Pfahlwurzel, auf ihm ruht die ganze Opritschnina. Ihm als Erstem hat der Gossudar die Sache seinerzeit anvertraut. Auf ihn konnte das Staatsoberhaupt sich in schweren, für Russland schicksalhaften Zeiten stützen. Das erste Glied in der eisernen Kette der Opritschnina war er. Bei ihm hakten die anderen Glieder sich ein, wurden

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