Tag und Nacht und auch im Sommer
Mr. McCourt, ich hab noch nie im Leben ein Kochrezept gelesen. Ich hab noch nie im Leben ein Kochbuch aufgemacht. Ich habe noch nicht mal ein Ei gekocht.
In Ordnung, David. Heute wird dein Gaumen zum Leben erweckt. Heute erweitert sich dein Wortschatz. Heute wirst du zum Gourmet.
Eine Hand. Was ist ein Gourmet?
Noch eine Hand. Ein Gourmet ist jemand, der gutes Essen und guten Wein und überhaupt die angenehmen Dinge des Lebens zu schätzen weiß.
Ein ungläubiges Raunen geht durchs Klassenzimmer, und es gibt lächelnde Gesichter und bewundernde Blicke für James,
denn er ist der letzte, von dem man erwartet hätte, daß er irgend etwas außer Hot dogs und Pommes kennt.
David liest ein Rezept für Coq au vin vor. Sein Vortrag ist monoton und unsicher, aber sein Interesse nimmt sichtlich zu, während er sich durch das Rezept arbeitet und Zutaten entdeckt, von denen er noch nie gehört hat.
David, ich möchte, daß du und die ganze Klasse Datum und Uhrzeit sowie die Tatsache notiert, daß du in Raum 205 der Stuyvesant High School das erste Kochrezept deines Lebens vor deinen Klassenkameraden vorgelesen hast. Nur der Himmel weiß, wohin dich das führen wird. Merkt euch bitte, daß sich hier und heute zum erstenmal in der Geschichte der Menschheit eine Literaturklasse versammelt hat, um Kochrezepte zu lesen. David, sicher ist dir aufgefallen, daß stürmischer Applaus ausgeblieben ist. Du hast das Rezept vorgelesen wie eine Seite aus dem Telefonbuch. Aber laß den Kopf nicht hängen. Du hast dich auf Neuland vorgewagt und wirst beim nächsten Mal dem Rezept sicher in vollem Umfang gerecht werden. Noch jemand?
Ein Wald von Händen. Ich rufe Brian auf. Ich weiß, daß es ein Fehler ist, und höre schon seinen abfälligen Kommentar. Er ist genau so ein kleiner Miesling wie Andrew der Kippler, aber ich als Lehrer bin über solche Dinge erhaben, reif und bereit, mein Ego hintanzustellen.
Ja, Brian.
Er schaut Penny an, seine Nachbarin. Er ist schwul, sie ist lesbisch. Sie verheimlichen es nicht. Sie brauchen kein Comingout. Er ist klein und dick. Sie ist groß und schlank, und sie hält den Kopf, wie um zu fragen, wollen Sie da jetzt den großen Hit draus machen? Ich will nicht den großen Hit draus machen. Warum haben die beiden sich gegen mich verbündet? Ich weiß, sie können mich nicht leiden, und warum kann ich mich nicht einfach damit abfinden? Natürlich kann einen nicht jeder der mehreren Hundert Schüler mögen, die man jedes Jahr hat. Lehrer wie Phil Fisher kümmern sich einen Dreck darum, ob man
sie mag oder nicht. Phil würde sagen, ich unterrichte Differentialrechnung, ihr hoffnungslosen Strohköpfe. Wenn ihr nicht aufpaßt und nicht lernt, fallt ihr durch, und dann könnt ihr später mal Schizophrenen die Grundrechenarten beibringen. Würden alle Kids in der Klasse ihn verachten, würde Phil sie seinerseits verachten und ihnen Differentialrechnung einbleuen, bis sie sie im Schlaf herbeten könnten.
Ja, Brian?
Oh, er ist ein ganz Lässiger, dieser Brian. Erst lächelt er noch mal Penny zu. Er läßt sich Zeit. Er wird mich am Spieß braten.
Ich weiß nicht, Mr. äh McCourt, soll ich jetzt vielleicht heimgehen und äh meinen Eltern sagen, daß wir in einer Klasse an der Stuyvesant High School rumsitzen und äh Rezepte aus Kochbüchern vorlesen? Andere Klassen lesen amerikanische Literatur, aber wir müssen äh wie die letzten Hirnis rumhocken und Rezepte lesen.
Ich bin wütend. Am liebsten würde ich Brian mit einer ätzenden Bemerkung fertigmachen, aber James, der Gourmetkenner, übernimmt. Darf ich was sagen? Er sieht Brian an. Du hockst immer bloß da und krittelst an allem rum. Was ist eigentlich los mit dir? Bist du an deinem Stuhl festgeklebt?
Natürlich bin ich nicht an meinem Stuhl festgeklebt.
Weißt du, wo das Sekretariat ist?
Ja.
Also, wenn dir nicht paßt, was wir hier machen, warum hebst du dann nicht deinen Arsch vom Stuhl, gehst ins Sekretariat und wechselst in eine andere Klasse? Kein Mensch hält dich hier. Hab ich nicht recht, Mr. McCourt? Wechsel die Klasse, sagt James. Hau ab hier. Geh Moby Dick lesen , wenn du das verkraftest.
Susan Gilman meldet sich grundsätzlich nicht. Dazu hat sie es zu eilig. Zwecklos, ihr zu sagen, daß es gegen die Vorschrift ist, einfach loszuplappern. Das wischt sie weg. Was soll’s? Jetzt
muß sie mir unbedingt sagen, daß sie mir auf die Schliche gekommen ist. Ich weiß, warum Sie wollen, daß wir diese Rezepte vorlesen.
Ach ja?
Ja, weil
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