Tag und Nacht und auch im Sommer
Applaus. Die Leute haben viel Geld für ihre Karte bezahlt. Sie drängen sich am Bühneneingang und bitten um Autogramme. Lehrer an öffentlichen High Schools treten fünfmal pro Tag auf. Ihr Publikum verkrümelt sich, sobald die Glocke läutet, und um Autogramme werden sie nur für die Jahrbücher bei der Abschlußfeier gebeten.
Manche Kinder kann man eine Zeitlang an der Nase herumführen, aber sie merken es, wenn man die Maske aufsetzt, und man weiß, daß sie es merken. Sie zwingen einen zur Wahrheit. Widerspricht man sich, rufen sie, he, da haben Sie aber letzte Woche was anderes gesagt. Man steht vor Jahren der Erfahrung und der kollektiven Wahrheit, und wenn man sich partout hinter der Lehrermaske verstecken will, entgleiten sie einem. Auch wenn sie sich selbst und alle Welt belügen, vom Lehrer erwarten sie Ehrlichkeit.
An der Stuyvesant beschloß ich, es immer zuzugeben, wenn ich eine Antwort nicht wußte. Ich weiß es eben nicht, Freunde. Nein, ich habe Beda den Ehrwürdigen nie gelesen. Vom Transzendentalismus hab ich nur eine verschwommene Vorstellung. John Donne und Gerard Manley Hopkins können einem schwer im Magen liegen. Ich weiß nicht genug über den Louisiana Purchase. Ich hab im Schopenhauer geblättert und bin über Kant eingeschlafen. Und mit Mathematik dürft ihr mir gar nicht erst kommen. Was misogyn bedeutet, wußte ich mal, aber ich hab’s wieder vergessen. Dafür weiß ich, was Ususfructus ist. Tut mir leid, aber die Feenkönigin konnte ich nicht zu Ende lesen. Irgendwann versuch ich’s noch mal, aber erst muß ich mit den metaphysischen Dichtern klarkommen.
Ich werde mich nicht auf meine Unwissenheit herausreden. Ich werde mich nicht hinter meinen Bildungslücken verstecken. Ich werde ein Förderprogramm für mich selbst entwickeln, um ein besserer Lehrer zu werden: diszipliniert, traditionsbewußt, beschlagen, einfallsreich, mit Antworten stets bei der Hand. Ich werde mich in Geschichte, Kunst, Philosophie und Archäologie
vertiefen. Ich werde das Gepränge der englischen Sprache und Literatur durcheilen, von den Angeln, Sachsen, Jüten und Normannen über die Elisabethaner, die Neoklassizisten, die Romantiker, die Viktorianer, die Edwardianer und die Antikriegsdichter bis zu den Strukturalisten, den Modernisten und den Postmodernisten. Ich werde mir eine Idee aussuchen und ihre Geschichte nachzeichnen, von einer Höhle in Frankreich bis zu dem Raum in Philadelphia, in dem Franklin und die anderen an der Verfassung der USA gebosselt haben. Wahrscheinlich werde ich ein bißchen angeben und mir damit einigen Spott einhandeln, aber wer kann es einem schlechtbezahlten Lehrer verdenken, daß er nachweisen will, wie gefährlich Halbbildung sein kann?
Die Schüler versuchten ständig, mich vom traditionellen Englischunterricht abzulenken, aber ich kannte ihre Tricks. Ich erzählte immer noch Geschichten, aber inzwischen verstand ich mich darauf, sie mit Gestalten wie der Frau aus Bath, Tom Sawyer, Holden Caulfield oder Romeo und seiner Reinkarnation in der West Side Story zu verknüpfen. Von Englischlehrern wird immer verlangt, den Bezug zum wirklichen Leben herzustellen.
Allmählich fand ich meine Stimme und meinen eigenen Unterrichtsstil. Ich lernte, mich im Klassenzimmer wohl zu fühlen. Wie Roger Goodman ließ mir auch mein neuer Vorgesetzter Bill Ince jede erdenkliche Freiheit, Ideen zu Schriftstellerei und Literatur auszuprobieren, meine eigene Atmosphäre im Klassenzimmer zu schaffen und zu tun, was ich wollte, ohne bürokratisches Störfeuer gewärtigen zu müssen. Meine Schüler waren reif und tolerant genug, mich meinen Weg ohne Rückgriff auf die Maske oder den Rotstift suchen zu lassen.
Vor allem mit zwei Dingen kann man sich die Aufmerksamkeit amerikanischer Teenager sichern: Sex und Essen. Mit Sex muß man vorsichtig sein. Irgend etwas sickert immer zu den Eltern durch, und dann wird man zum Rapport befohlen, um zu erklären,
warum man zuläßt, daß die Schüler Geschichten über Sex lesen. Man entgegnet, das geschehe durchaus mit Geschmack und im Sinne der romantischen und nicht etwa der biologischen Seite der Liebe. Aber das reicht nicht.
Kenny DiFalco rief von hinten, ob ich Marzipan möge. Er hielt etwas Weißes hoch und sagte, er habe es selbst gemacht. Ich erwiderte auf gute Lehrerart, es sei gegen die Vorschriften, im Klassenzimmer zu essen oder zu trinken, und was denn Marzipan überhaupt sei. Probieren Sie’s mal, sagte er. Es war köstlich. Ein Chor von
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