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Tag und Nacht und auch im Sommer

Tag und Nacht und auch im Sommer

Titel: Tag und Nacht und auch im Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank McCourt
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gesagt habe, aber es ist nun mal passiert, und ich wollte nicht respektlos sein.
    Ich bewunderte Helen so sehr für ihre Reife, ihren Mut und ihre wunderschönen Brüste, daß ich kaum mit meiner Lehrprobe weitermachen konnte. Ich dachte, es würde mir nichts ausmachen, amputiert zu sein, wenn sie den ganzen Tag um mich wäre, mich waschen und abtrocknen und mir meine tägliche Massage verabreichen würde. Natürlich darf man als Lehrer nicht so denken, aber was soll man machen, wenn man siebenundzwanzig ist und jemand wie Helen vor einem sitzt und Themen wie Sex anschneidet und dabei so aussieht wie sie?
    Ein Junge will die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Er sagt, Helens Schwester sollte sich keine Sorgen machen, daß ihr Schwager Selbstmord begehen könnte, denn das wäre unmöglich, wenn man keine Arme mehr hat. Ohne Arme kann man sich nicht umbringen.
    Zwei Jungen sagen, das dürfte es nicht geben, daß man sich dem Leben ohne Gesicht oder ohne Beine stellen muß, wenn man erst zweiundzwanzig ist. Ja, sicher, Beinprothesen könne man sich immer machen lassen, aber eine Gesichtsprothese würde man nie bekommen, und wer würde dann noch mit einem gehen? Das wäre das Ende, und man würde nie Kinder haben oder so. Die eigene Mutter würde einen nicht mehr gern ansehen, und man müßte seine ganze Nahrung durch einen Strohhalm nuckeln. Es sei sehr traurig zu wissen, daß man nie mehr in den Badezimmerspiegel schauen würde, aus Angst vor dem, was man da zu sehen oder nicht zu sehen bekäme, wo doch das Gesicht weg ist. Stellt euch vor, wie sich die arme Mutter gefühlt
haben muß, als sie seinen Rasierapparat und seine Rasierseife weggeschmissen hat, weil sie wußte, daß er sie nie mehr brauchen würde. Nie wieder. Sie konnte ja nicht gut in sein Zimmer gehen und zu ihm sagen, mein Sohn, du wirst ja jetzt dein Rasierzeug nicht mehr brauchen, und weil sich hier immer mehr Kram ansammelt, schmeiß ich es jetzt weg. Könnt ihr euch vorstellen, wie der sich fühlt, wenn er da ohne Gesicht sitzt und seine Mutter ihm mehr oder weniger zu verstehen gibt, daß für ihn alles vorbei ist? So was würde man nur jemand antun, den man nicht leiden kann, und man kann sich kaum vorstellen, daß eine Mutter den eigenen Sohn nicht leiden kann, auch wenn er kein Gesicht mehr hat. Egal, was einem zustößt, die eigene Mutter sollte einen immer mögen und hinter einem stehen. Wo wären wir, wenn das nicht so wäre, und was hätte das Leben dann überhaupt noch für einen Sinn?
    Ein paar Jungen in der Klasse wünschen sich ihren eigenen Krieg, damit sie rüberfahren und es denen heimzahlen können. Ein anderer sagt, ach, Blödsinn, es denen heimzahlen, das geht doch überhaupt nicht, und die anderen buhen ihn aus und brüllen ihn nieder. Er heißt Richard, und sie sagen, die ganze Schule weiß, was er für ein Kommunist ist. Der Fachbereichsleiter macht sich Notizen, wahrscheinlich darüber, daß ich die Kontrolle über die Klasse verloren habe, weil ich es zulasse, daß mehrere gleichzeitig reden. Verzweiflung packt mich. Ich hebe die Stimme: Hat einer von euch schon einmal einen Film über deutsche Soldaten mit dem Titel Im Westen nichts Neues gesehen? Nein, haben sie nicht, warum sollten sie Geld dafür ausgeben, sich Filme über Deutsche anzuschauen, nach dem, was die uns angetan haben? Die Scheiß-Krauts.
    Wie viele von euch sind Italiener? Die halbe Klasse.
    Heißt das, ihr habt auch noch nie einen italienischen Film gesehen, weil die Italiener im Krieg gegen Amerika gekämpft haben?
    Nein, das hat nichts mit dem Krieg zu tun. Sie haben nur einfach
keine Lust, sich diese Filme mit den blöden Untertiteln anzusehen, die so schnell wechseln, daß man nicht mitkommt, und wenn in dem Film Schnee ist und die Untertitel weiß sind, wie zum Teufel soll man da noch irgendwas lesen können? In diesen italienischen Filmen kommt oft Schnee vor und Hunde, die an eine Mauer pinkeln, und überhaupt sind sie deprimierend, weil die Leute dauernd auf der Straße stehen und darauf warten, daß was passiert.
    Die Schulbehörde schreibt vor, daß eine Unterrichtsstunde mit einer Zusammenfassung enden muß, die zu einer Hausaufgabe oder einer Verstärkung oder irgendeinem anderen greifbaren Ergebnis führt, aber das habe ich vergessen, und als es klingelt, läuft gerade ein Streitgespräch zwischen zwei Jungen, von denen der eine John Wayne verteidigt und der andere sagt, das war ein Schwindler, der war nie im Krieg. Ich versuche, alles doch noch

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