Tag und Nacht und auch im Sommer
mich nicht. Ich schicke ihn zum Beratungslehrer, und der schickt ihn mir mit einer Notiz zurück: Ich solle ihn ständig beschäftigen. Ihn die Tafel abwischen lassen. Ihn zum Auswaschen der Schwämme in den Keller schicken. Vielleicht, meint der Beratungslehrer, könne Kevin ja mit dem nächsten Astronauten ins All fliegen und einfach in der Umlaufbahn bleiben. Ein Beratungswitz.
Ich sage Kevin, daß ich ihn zum Klassenordner mache, der für alles verantwortlich ist. Er erledigt seine Aufgaben in wenigen Minuten und sagt den anderen, sie sollen aufpassen, wie schnell er ist. Danny Guarino sagt, er sei in allem schneller und werde sich nach der Schule Kevin draußen vornehmen. Ich trenne die
beiden und nehme ihnen das Versprechen ab, sich nicht zu prügeln. Kevin bittet um den Paß, nimmt ihn dann aber doch nicht und meint, er sei kein Baby mehr wie gewisse andere hier drin, die alle paar Minuten mal müssen.
Seine Mutter vergöttert ihn, andere Lehrer wollen ihn nicht, der Beratungslehrer gibt den Schwarzen Peter weiter, und ich weiß nicht, was ich mit ihm machen soll.
Im Schrank findet er Hunderte kleiner Wasserfarbengläschen mit eingetrockneten, rissigen Farbresten. Er sagt, ui, ui. O Mann. Gläschen, Gläschen. Farben, Farben. Meine, meine.
Okay, Kevin. Möchtest du sie saubermachen? Du kannst hier an dem Extratisch neben dem Ausguß bleiben und brauchst dich nicht mehr auf deinen Platz zu setzen.
Es ist riskant. Womöglich nimmt er es mir übel, daß ich ihm eine so stumpfsinnige Arbeit übertrage.
Ja, ja. Meine Gläschen. Mein Tisch. Ich nehm auch die Kapuze ab.
Er schiebt die Kapuze zurück, und sein Haar flammt auf. Ich sage, so rotes Haar hätte ich noch nie gesehen, und er grinst. Er arbeitet stundenlang am Ausguß, kratzt die alten Pigmente mit einem Löffel in ein großes Einmachglas, schrubbt die Verschlußkappen, reiht die Gläschen säuberlich auf Regalbrettern auf. Am Schuljahresende arbeitet er immer noch, ist immer noch nicht fertig. Ich sage ihm, daß er über den Sommer nicht dableiben kann, und er heult vor Enttäuschung. Ob er die Gläschen mit nach Hause nehmen dürfe. Seine Wangen sind naß.
In Ordnung, Kevin. Nimm sie mit nach Hause.
Er berührt meine Schulter mit seiner bunten Hand, sagt, ich sei der tollste Lehrer der Welt, und wenn mir irgend jemand Ärger macht, knöpft er ihn sich vor, denn er weiß, wie man mit Leuten umgeht, die ihre Lehrer ärgern.
Er nimmt ein paar Dutzend Gläschen mit nach Hause.
Im September erscheint er nicht mehr. Berater der Schulbehörde schicken ihn auf eine Sonderschule für Schwererziehbare.
Er reißt aus und lebt eine Zeitlang bei den weißen Mäusen in der Garage seines Vaters. Dann wird er zur Army eingezogen, und seine Mutter kommt in die Schule und erzählt mir, daß er in Vietnam vermißt ist; sie zeigt mir ein Foto von seinem Zimmer. Auf dem Tisch hat er die Gläschen so arrangiert, daß sie eine Folge von Buchstaben bilden: MCCOURT OK.
Sehen Sie, sagt seine Mutter. Er hat Sie gemocht, weil Sie ihm geholfen haben, aber die Kommunisten haben ihn erwischt, also sagen Sie mir, wozu das alles? Sehen Sie sich die vielen Mütter an, deren Kinder in Stücke geschossen werden. Mein Gott, man hat nicht einmal einen Finger, den man beerdigen kann, und können Sie mir sagen, was sich in dem Land da drüben abspielt, von dem noch nie jemand was gehört hat? Können Sie mir das sagen? Ein Krieg ist aus, ein anderer fängt an, und man kann von Glück sagen, wenn man nur Töchter hat, die nicht da rübergeschickt werden.
Aus einer Stofftasche holt sie das große Einmachglas, das mit Kevins getrockneten Farben gefüllt ist. Sie sagt, schauen Sie sich das an. Alle Farben des Regenbogens in dem Glas. Und wissen Sie was? Er hat sich seine ganzen Haare abgeschnitten, und man sieht, wo er sie mit den Farben vermischt hat. Das ist ein Kunstwerk, nicht wahr? Und ich weiß, er wollte, daß Sie es bekommen.
Ich hätte ehrlich zu Kevins Mutter sein und ihr sagen können, daß ich wenig für ihren Sohn getan habe. Er war wie eine verlorene Seele, die ziellos umherschwebt auf der Suche nach einem Platz, wo sie Anker werfen könnte, aber ich wußte nicht genug oder war zu schüchtern, um Zuneigung zu zeigen.
Ich behielt das Einmachglas auf meinem Pult, wo es leuchtete, strahlte, und wenn ich die Klümpchen aus Kevins Haaren sah, war ich traurig, weil ich zugelassen hatte, daß er der Schule entglitt und nach Vietnam kam.
Meine Schüler, vor allem die Mädchen,
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