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Tag und Nacht und auch im Sommer

Tag und Nacht und auch im Sommer

Titel: Tag und Nacht und auch im Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank McCourt
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schon lesen? Und wenn ja, was liest er?
    Ich überlegte fieberhaft, was ich in letzter Zeit gelesen hatte, ich brauchte etwas, was ihn beeindrucken konnte.
    Ich lese gerade die Autobiographie von Sean O’Casey.
    Er ließ mich einen Moment leiden, fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, grunzte, Sean O’Casey. Seien Sie doch so gut, und zitieren Sie uns die eine oder andere Zeile.
    Mir klopfte das Herz bis zum Hals. Der Halbkreis der Bewunderer wartete. Dahlberg hob den Kopf, wie um Ja? zu sagen. Mein Mund war trocken. Mir fiel nichts von O’Casey ein, das vor den großartigen Texten hätte bestehen können, die Dahlberg zitiert hatte. Ich murmelte, na ja, ich bewundere O’Casey dafür, wie locker er über seine Jugend in Dublin schreibt.

    Er ließ mich abermals leiden und lächelte dabei seinen Bewunderern zu. Er wies mit dem Kinn auf mich. Seine lockere Art zu schreiben, sagt unser irischer Freund. Wenn Sie eine sogenannte lockere Schreibe bewundern, finden Sie in jeder Bedürfnisanstalt reichlich Lektüre.
    Die Bewunderer lachten. Ich bekam einen roten Kopf und stieß hervor, O’Casey kommt aus den Elendsvierteln von Dublin. Er ist halb blind. Er ist ein … ein … Freund der Arbeiter … Ihnen kann er allemal das Wasser reichen. Die ganze Welt kennt Sean O’Casey. Und wer kennt Sie?
    Er schüttelte mit Blick auf seine Bewunderer den Kopf, und sie taten es ihm gleich. Er rief R’lene zu, sag deinem Schuljungen, er möge sich aus meiner Gegenwart entfernen. Er ist hier nicht willkommen, ganz im Gegensatz zu seiner charmanten Gattin.
    Ich folgte R’lene ins Schlafzimmer, um meinen Mantel zu holen. Ich sagte ihr, es tue mir leid, einen solchen Mißklang verursacht zu haben, und verachtete mich selbst wegen dieser Entschuldigung, aber sie hielt den Kopf gesenkt und schwieg. Im Wohnzimmer betatschte Dahlberg Albertas Schulter und sagte zu ihr, sie sei zweifellos eine gute Lehrerin und er hoffe, sie wieder einmal in seinem Haus zu sehen.
    Schweigend fuhren wir mit der U-Bahn nach Brooklyn. Ich war durcheinander und fragte mich, warum Dahlberg sich so aufgeführt hatte. Mußte er einen Fremden demütigen? Und warum hatte ich es mir gefallen lassen?
    Weil ich keinen Funken Selbstbewußtsein hatte. Er war sechzig, ich dreißig. Ich war wie einer, der eben aus dem unzivilisierten Hinterland eingetroffen ist. Ich würde mich in literarischen Kreisen nie wohl fühlen. Ich befand mich auf unbekanntem Terrain und war zu unbeleckt, um zur Schar der Bewunderer zu gehören, die bei Dahlbergs literarischem Pingpong mithalten konnten.
    Ich war wie gelähmt und schämte mich, und ich schwor mir, diesen Menschen nie wiederzusehen. Ich würde den Schuldienst,
der nirgendwohin führte und mir kein Ansehen eintrug, quittieren, mir eine Teilzeitarbeit suchen, in der übrigen Zeit in Bibliotheken lesen, auf Partys wie diese gehen, zitieren und rezitieren, mich gegen Leute wie Dahlberg und seine Bewunderer behaupten. R’lene lud uns doch wieder ein, aber jetzt war Dahlberg höflich, und ich war auf der Hut und clever genug, den gelehrigen Schüler zu spielen. Er fragte mich jedesmal, was ich gerade las, und ich wahrte den Frieden, indem ich Griechen, Römer und Kirchenväter ebenso herunterbetete wie Cervantes, Burtons Anatomie der Melancholie , Emerson, Thoreau und natürlich Edward Dahlberg, als hätte ich jetzt nichts anderes zu tun als den ganzen Tag im Sessel auf meinem Allerwertesten zu sitzen, zu lesen und darauf zu warten, daß Alberta heimkam, mir das Abendessen servierte und meinen armen Nacken massierte. Wenn das Gespräch eine Wendung zum Dunklen und Gefährlichen nahm, zitierte ich aus seinen Büchern und sah zu, wie sein Gesicht sich aufhellte und weich wurde. Es überraschte mich, daß ein Mann, der Zusammenkünfte dominierte und sich überall Feinde machte, so prompt auf jede Schmeichelei hereinfiel. Und es überraschte mich auch, daß ich selbst schlau genug war, eine Strategie auszutüfteln, die seinen Zornesausbrüchen im Sessel vorbeugte. Ich lernte, meine Zunge im Zaum zu halten und seine Unverschämtheiten hinzunehmen, weil ich glaubte, von seiner Gelehrsamkeit und Weisheit profitieren zu können.
    Ich beneidete ihn darum, daß er das Leben eines Schriftstellers führte, ein Traum, der mir unerreichbar schien. Ich bewunderte ihn wie jeden, der seinen eigenen Weg ging und sich nicht beirren ließ. Trotz all meiner Erfahrungen in Amerika fühlte ich mich immer noch wie frisch vom Schiff. Wenn Dahlberg über

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