Tag und Nacht und auch im Sommer
meinten, das Glas sei schön, ja, ein Kunstwerk, da stecke sicher eine Menge Arbeit
drin. Ich erzählte ihnen von Kevin, und ein paar von den Mädchen weinten.
Ein Putzmann, der im Klassenzimmer saubermachte, hielt das Glas für Abfall und warf es im Keller auf den Müll.
In der Kantine sprach ich mit anderen Lehrern über Kevin. Sie schüttelten den Kopf. Ein Elend, sagten sie. Manche von den Kindern fallen durchs Raster, aber, mein Gott, was kann man als Lehrer schon groß tun? Wir haben riesige Klassen und keine Zeit, und wir sind keine Psychologen.
8
M it dreißig heiratete ich Alberta Small und belegte Kurse am Brooklyn College, um den Master of Arts in Englischer Literatur zu machen. Der akademische Grad würde dazu beitragen, daß ich im Leben weiterkam und mein Ansehen ebenso stieg wie mein Lehrergehalt.
Als Gegenstand der vorgeschriebenen Magisterarbeit wählte ich Oliver St. John Gogarty, den Arzt, Dichter, Dramatiker, Romanautor, Geistesriesen, Athleten, Meistertrinker in Oxford, Memoirenschreiber, Senator und (vorübergehend) Freund von James Joyce, der ihn in seinem Ulysses als Buck Mulligan verewigte.
Der Titel meiner Arbeit lautete »Oliver St. John Gogarty: Eine kritische Studie«. Kritisch war aber nichts daran. Ich wählte Gogarty, weil ich ihn so bewunderte. Wenn ich ihn las und über ihn schrieb, würde sicherlich etwas von seinem Charme, seiner Begabung und seiner Gelehrsamkeit auf mich abfärben. Ich würde mir etwas von seinem Schwung und seinem Flair aneignen, seiner Extravaganz. Er war ein Dubliner Original, und ich hoffte, genauso ein flotter, trinkfester, poetischer Ire zu werden wie er. Ich würde ein New Yorker Original sein. Ich würde überall brüllendes Gelächter ernten und als Sänger und Geschichtenerzähler die Bars von Greenwich Village erobern. In der Lion’s Head Bar trank ich mir mit ungezählten Whiskeys den nötigen Mut an. Die Barkeeper rieten mir, kürzer zu treten. Freunde sagten, sie verstünden kein Wort von dem, was ich von mir gab. Sie trugen mich aus der Bar und setzten mich in ein Taxi, gaben dem Fahrer Geld und wiesen ihn an, mich ohne Zwischenstopp bis vor meine Haustür in Brooklyn zu bringen.
Ich versuchte bei Alberta so geistreich zu sein wie Gogarty, aber sie meinte, ich solle um Himmels willen den Mund halten. Mit meiner Gogarty-Nummer handelte ich mir nur einen so fürchterlichen Kater ein, daß ich niederkniete und Gott bat, mich zu sich zu holen.
Professor Julian Kaye akzeptierte meine Arbeit trotz »des monotonen Stils und eines dem Gegenstand, Gogarty, nicht angemessenen Pathos«.
Mein erster und liebster Professor am Brooklyn College war der Yeats-Experte Morton Irving Seiden. Er trug eine Fliege und konnte drei Stunden am Stück über die Angelsächsische Chronik, über Chaucer oder Matthew Arnold sprechen, er hatte den ganzen Stoff fein säuberlich sortiert im Kopf. Seine Aufgabe sah er darin, Wissen in leere Gefäße zu gießen, und wenn man irgendwelche Fragen hatte, konnte man ihn in seinem Büro aufsuchen. Dafür verschwendete er keine Vorlesungszeit.
Er hatte an der Columbia University über Yeats promoviert und ein Buch mit dem Titel Paradox of Hate geschrieben, in dem er die These vertrat, die Angst vor jüdischer Sexualität sei eine der Hauptursachen des Antisemitismus in Deutschland.
Ich belegte seinen einjährigen Kurs über die Geschichte der englischen Literatur von Beowulf bis Virginia Woolf, vom Rekken zur Ricke. Man merkte, daß er uns nahebringen wollte, wie sich die englische Literatur und mit ihr die Sprache entwickelt hat. Wir sollten die Literatur kennen wie ein Arzt den Körper, meinte er.
Alles, was er sagte, war mir neu, einer der Vorteile, wenn man naiv und ungebildet ist. Ich kannte das eine oder andere Werk der englischen Literatur, aber es war spannend, Seiden zuzuhören, wie er von Autor zu Autor eilte, von Jahrhundert zu Jahrhundert, zwischendurch bei Chaucer verweilte, bei John Skelton, Christopher Marlowe, John Dryden, der Aufklärung, der Romantik, den Viktorianern und weiter ins zwanzigste
Jahrhundert, wobei er immer wieder Textpassagen vorlas, um uns die Entwicklung des Englischen vom Angelsächsischen über das Mittelenglische bis hin zum modernen Englisch zu demonstrieren.
Nach diesen Vorlesungen bemitleidete ich immer die Leute in der U-Bahn, die nicht wußten, was ich wußte, und ich konnte es gar nicht erwarten, wieder in meinem eigenen Klassenzimmer zu stehen und meinen Schülern zu erzählen,
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