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Tag und Nacht und auch im Sommer

Tag und Nacht und auch im Sommer

Titel: Tag und Nacht und auch im Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank McCourt
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Sie kritzeln in ihre Hefte, und ich merke mir, daß ich, wann immer
eine Unterrichtsstunde ins Stocken gerät, auf die verschiedenen Hinrichtungsmethoden zurückgreifen kann.
    Vivian aus Haiti meldet sich. Das ist Unrecht, diese Hinrichtung, aber ich finde es in Ordnung für diese andere Sache, das mit den Babys, äh, ja, die Abtreibung. Die sollte man erschießen.
    Na gut, Vivian. Warum schreiben Sie das nicht in Ihre Facharbeit ?
    Ich? Aufschreiben, was ich sage? Wen interessiert denn, was ich sage? Ich bin niemand, Herr Professor. Niemand.
    Lauter leere Mienen. Sie verstehen nicht. Wie denn auch? Wie war das mit der anderen Seite einer Geschichte? Niemand hat ihnen je gesagt, daß sie ein Recht auf eine eigene Meinung haben.
    Sie haben keine Scheu, vor der Klasse zu sprechen, aber Worte zu Papier zu bringen ist ein gefährlicher Schritt, vor allem wenn man mit Spanisch oder Französisch aufgewachsen ist. Außerdem haben sie keine Zeit für so was. Sie haben Kinder, die sie großziehen müssen, und ihre Arbeit, und sie müssen ihren Familien in Haiti und Kuba Geld schicken. Ein Professor kann leicht solche Aufgaben stellen, aber, Mann, da draußen gibt’s noch eine andere Welt, und der Herrgott hat dem Tag nur vierundzwanzig Stunden gegeben.
    Es sind noch zehn Minuten bis zur vollen Stunde, und ich sage den Studenten, sie könnten sich ganz nach Belieben in der Bibliothek umsehen. Keiner rührt sich. Sie flüstern nicht einmal mehr. Sie bleiben einfach sitzen in ihren Wintermänteln. Sie drücken ihre Taschen an sich und warten auf die Sekunde, mit der die Stunde endet.
    Auf dem Flur schildere ich meinem Freund, dem altgedienten Professor Herbert Miller, meine Probleme mit dieser Klasse. Na ja, sagt er, die arbeiten Tag und Nacht. Sie kommen in Ihre Stunde. Sie sitzen da und hören zu. Sie tun ihr Bestes. Die Leute von der Zulassungsstelle nehmen sie auf und erwarten dann
vom Dozenten, daß er Wunder wirkt oder die Axt schwingt. Ich denke nicht daran, den Vollzugsbeamten der Verwaltung abzugeben. Recherchen? Quellenangaben? Wie sollen diese Leute Facharbeiten schreiben, wenn sie sich schon mit dem Zeitunglesen so verdammt schwertun?
    Die Studenten würden Miller zustimmen. Sie würden nicken und ja, ja sagen. Sie denken, sie sind niemand.
    Das hätte ich von Anfang an wissen müssen: Die Leute in meinen Kursen, Erwachsene von achtzehn bis zweiundsechzig, denken, daß ihre Meinung nicht zählt. Ihre einzigen Ideen stammen aus dem Trommelfeuer der Medien unserer Welt. Niemand hat ihnen jemals gesagt, daß sie das Recht haben, selbständig zu denken.
    Ich sagte ihnen, Sie haben das Recht, selbständig zu denken. Stille im Seminar. Ich sagte, Sie müssen nicht alles glauben, was ich Ihnen sage. Oder was irgend jemand Ihnen sagt. Sie können Fragen stellen. Wenn ich die Antwort nicht weiß, können wir in der Bibliothek nachschlagen oder hier darüber diskutieren.
    Sie sehen einander an. Ja. Der Mann redet kariertes Zeug. Sagt uns, wir müssen ihm nicht glauben. He, wir sind hier, um Englisch zu lernen, damit wir unsere Prüfung bestehen. Wir müssen den Abschluß schaffen.
    Ich wollte der Große Befreiungslehrer sein, wollte sie nach den eintönigen Tagen des Buckelns in Büros und Fabriken aufrichten, wollte ihnen helfen, die Fesseln abzustreifen, sie auf den Berggipfel führen, wo die Luft der Freiheit weht. Wenn sie erst einmal den Müll aus dem Kopf hatten, würden sie mich als Erlöser sehen.
    Für die Menschen in diesem Kurs war das Leben schon schwer genug, auch ohne einen Englischlehrer, der ihnen selbständiges Denken predigte und sie mit Fragen behelligte.
    Mann, wir wollen das hier einfach nur hinter uns bringen.
    Die Facharbeiten erwiesen sich als eine einzige Plagiatorgie,
Artikel über Papa Doc Duvalier und Fidel Castro, aus Enzyklopädien abgeschrieben. Vivians Arbeit über Touissant-L’Ouverture zog sich in einer Mischung aus Englisch und haitianischem Französisch über siebzehn Seiten, und ich gab ihr ein B plus für die Kopier- und Tipparbeit. Um mich zu rehabilitieren, schrieb ich eine Bemerkung auf die Titelseite: Toussaint habe selbständig gedacht und dafür leiden müssen, und ich könne nur hoffen, Vivian werde seinem Beispiel folgen, wenn auch ohne das Leid.
    Als ich die Arbeiten zurückgab, versuchte ich, die Verfasser durch positive Kommentare zu ermuntern, sich noch eingehender mit ihrem Thema zu befassen.
    Ich redete gegen die Wand. Es war die letzte Stunde des Jahres, und sie schauten

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