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Tag und Nacht und auch im Sommer

Tag und Nacht und auch im Sommer

Titel: Tag und Nacht und auch im Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank McCourt
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Mund auf. Wissen Sie, was ich jetzt mache? Ich sag Andrew, er soll mit dem Quatsch aufhören und sich ordentlich hinsetzen.
    Sie ist sechzehn, groß und selbstsicher, und ihr blondes Haar hängt auf eine raffinierte Art über ihren Rücken herab, die mich an skandinavische Schauspielerinnen erinnert. Ich werde nervös, als sie nach hinten geht und sich vor Andrew hinstellt.
    Also paß mal auf, Andrew. Du siehst doch, was hier läuft. Da ist diese große Klasse, über dreißig Leute, und Mr. McCourt da vorn, und du kippelst, und er sagt dir, du sollst damit aufhören, aber du hockst bloß da und grinst vor dich hin, Andrew, und keiner weiß, was du dir dabei denkst. Du hältst hier den ganzen Betrieb auf. Was ist eigentlich dein Problem? Der Lehrer wird dafür bezahlt, daß er unterrichtet, und nicht dafür, daß er dir sagt, du sollst dich ordentlich hinsetzen, als wärst du ein Erstkläßler. Stimmt doch, Andrew, oder?

    Er kippelt immer noch, aber er schaut mich an, als wollte er mich fragen, was geht hier eigentlich ab? Was soll ich tun?
    Er stellt seinen Stuhl gerade. Er steht auf und sieht Diane an. Siehst du? Du wirst mich nie vergessen, Diane. Du wirst diese ganze Klasse vergessen, du wirst den Lehrer vergessen, Mr. Wieheißternoch, aber ich kipple mit meinem Stuhl, und der Lehrer wird sauer, und jeder in der Klasse wird sich für immer an mich erinnern. Hab ich nicht recht, Mr. McCourt?
    Ich hätte am liebsten die Maske des vernünftigen Lehrers fallengelassen und gesagt, was mir auf der Zunge lag, hör zu, du Schwachkopf, entweder du hörst ein für allemal mit dem blöden Gekippel auf, oder ich schmeiß dich aus dem Fenster, damit dich die Raben fressen.
    Aber so darf man nicht reden. Irgendwer würde einen verpetzen. Man kennt seine Rolle: Wenn die kleinen Scheißer dich hin und wieder zur Weißglut treiben, dann leide, Mann, leide. Kein Mensch zwingt dich, in diesem elenden unterbezahlten Beruf zu bleiben, und keiner hindert dich, durch diese Tür in die Hochglanzwelt hinauszutreten, die Welt der mächtigen Männer und schönen Frauen, der Cocktailpartys und der seidenen Bettwäsche.
    Schön und gut, Lehrer, und was würdest du machen in der großen weiten Welt der mächtigen Männer usw.? Also, geh wieder an die Arbeit. Sprich mit deiner Klasse. Diskutier das Kippelproblem. Es ist noch nicht ausgestanden. Die warten.
    Herhören. Hört mir zu.
    Sie lächeln. Da ist er wieder mit seinem ewigen Herhören, hört mir zu. Das rufen sie in der Pause einander zu, sie äffen mich nach, herhören, hört mir zu. Es bedeutet, daß sie einen mögen.
    Ich sagte, ihr habt gesehen, was sich in diesem Raum abgespielt hat. Ihr habt Andrew mit seinem Stuhl kippeln sehen, und ihr habt gesehen, was passiert ist, als ich ihm sagte, er soll damit aufhören. Also habt ihr doch Stoff für eine Story, oder
nicht? Es war ein Konflikt. Andrew gegen Lehrer. Andrew gegen die Klasse. Andrew gegen sich selbst. Ja, doch, durchaus, Andrew gegen sich selbst. Euch ist das eine oder andere aufgefallen, stimmt’s? Oder vielleicht habt ihr euch auch nur gefragt, warum macht der Lehrer solchen Terror wegen Andrew mit seinem Stuhl? Oder, warum ist Andrew so eine Nervensäge? Müßtet ihr als Reporter darüber berichten, bekäme der Vorfall noch eine weitere Dimension: Andrews Motivation. Nur er selbst weiß, warum er mit dem Stuhl kippelt, und ihr dürft Vermutungen anstellen. Wir könnten über dreißig verschiedene Theorien in dieser Klasse haben.
     
    Am nächsten Tag blieb Andrew nach Schulschluß zurück. Mr. McCourt, Sie haben an der NYU studiert, stimmt’s?
    Ja.
    Tja, also, meine Mutter hat gesagt, sie hat Sie gekannt.
    Ach ja? Schön zu wissen, daß sich jemand an mich erinnert.
    Ich meine, sie hat Sie privat gekannt.
    Noch einmal, ach ja?
    Sie ist letztes Jahr gestorben. An Krebs. Sie hat June geheißen.
    Mein Gott. Lange Leitung wäre untertrieben. Dämmerschlaf. Warum habe ich es nicht erraten? Warum habe ich sie nicht in seinen Augen wiedererkannt?
    Sie hat immer wieder gesagt, sie würde Sie anrufen, aber die Scheidung hatte sie ziemlich mitgenommen, und dann kam der Krebs, und als ich ihr gesagt habe, daß ich in Ihrer Klasse bin, mußte ich ihr versprechen, Ihnen nie von ihr zu erzählen. Sie hat gemeint, Sie würden sowieso nicht mit ihr reden wollen.
    Aber natürlich hätte ich mit ihr reden wollen. Ich hätte ewig mit ihr reden können. Wen hat sie geheiratet? Wer ist dein Vater ?
    Wer mein Vater ist, weiß ich nicht.

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