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Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Geraghty
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einen spitzen Hut. Du kannst einen solchen Kerl nicht John nennen.« In diesem Punkt war ich stur.

    »Er wird lange Hosen und ein Button-down-Hemd tragen, vielleicht mit einem Pullunder.« Clare hörte sich an, als wüsste sie, von was sie sprach.
    »Woher weißt du das?«
    »Weil er ein Mann mittleren Alters ist. Um die sechzig, glaube ich. Da tragen sie so etwas.« Wir kicherten wie Schulmädchen und sausten in der Küche herum, um etwas Stärkeres als Tee zum Trinken zu finden. Im Küchenschrank unter der Spüle stand eine Flasche Sherry. Sie diente als Halt für ein Spinnennetz, und wir nahmen Abstand davon.
    Jack Frost rettete den Tag. Er betrat die Küche, hielt in jeder Hand wie Trophäen eine Flasche Wein, einen Arm dabei lässig um die Schultern meiner Mutter gelegt. Sie sah auf sein Gesicht hinunter, und da fiel mir auf, dass er kleiner war als sie – sehr viel kleiner. Ein weiteres Novum. Und dass sie sich nicht seiner Umarmung entzog, sondern einfach stehen blieb, ihn anschaute und lächelte – alles gleichzeitig. Tatsache war, dass sie derart abgelenkt war, dass sie nicht einmal bemerkte, dass die Tür vom Küchenschrank halboffen stand und innen die betagte Sherry-Flasche nervös herumrollte. Clare stand auf einem Bein und schloss behutsam mit dem nach hinten ausgestreckten Fuß des anderen Beines die Tür. Noch immer nichts von meiner Mutter als ein Lächeln, dass die Sonne überstrahlte. Jack nahm sich der Situation an und sprach mit einer Stimme, die alles in allem leiser war, als man glauben würde.
    »Hallo, Clare. Schön Sie wiederzusehen.« Und dann: »Und Sie müssen Grace sein.« Er stellte den Wein auf die Arbeitsplatte und schritt im Clinton-Stil auf mich zu, mit ausgestreckten Armen, Hände gespreizt, ein breites Lächeln auf seinem Gesicht, bereit, meinen Arm energisch zu drücken. Als das Händeschütteln drankam, war ich über
dessen Kürze überrascht. Nur ein einziges flüchtiges Schütteln mit der rechten Hand, seine linke lag währenddessen sanft auf meinem Ellbogen. Er trat einen Schritt zurück und musterte mich.
    »Ihre Mutter hat mir alles über Sie erzählt. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.«
    Er trug sehr dunkle, sehr neue dunkelblaue Jeans, die am unteren Rand hochgestülpt waren. Eine starre Bügelfalte entlang der Hosenbeine verriet mir, wann genau er sie gekauft hat (um 10 Uhr 32 heute Morgen, wahrscheinlich in Liffey Valley). Sein Baumwollhemd – weiß, übersät mit Tupfen in jeder nur erdenklichen und auch nicht erdenklichen Größe und Farbe – war oben nicht zugeknöpft. Dicke Büschel grauer Härchen sprossen aus seiner Brust, seiner Nase, seinen Ohren. Selbst seine Zehen, eingezwängt in Sandalen, die der Jahreszeit nicht angemessen waren, waren mit drahtigen Härchen bedeckt. Und sein Kopf: Ich würde sagen, er war der Gegenstand des Neides all seiner Altersgenossen. Er hätte für jedes beliebige Haarprodukt Werbung machen können. Er war ganz einfach der behaarteste Mann, den ich je gesehen hatte. Ich wäre bereit gewesen, darauf zu wetten, dass sein Rücken dem Pelz eines kanadischen Bären glich. Er sprach noch immer.
    »Jack. Oder John, wenn Sie so möchten. Ich bin ein Freund Ihrer Mutter. Der Freund möchte ich nicht sagen, das klingt ein bisschen eigenartig, wenn man mein Jahrgang ist.« Dann lehnte er sich zur Seite und küsste Mam. Mitten auf die Halsgrube. Und produzierte dabei leise, saugende Geräusche. Vor uns, mir und Clare, als wären wir nicht anwesend. Jack zog sich als Erster zurück und lächelte uns an, als hätte er sie überhaupt nicht geküsst.
    Erst als meine Mutter mich stirnrunzelnd ansah, wurde mir bewusst, dass ich nichts gesagt hatte.

    »Freue mich auch, Sie kennenzulernen.« Ich war selbst über meine Worte überrascht. Und es stimmte. Er war wie ein offenes Feuer an einem Wintertag.
    Um den Esstisch herrschte ein gewisses Gedränge, aber wir brachten alle unter. Ella bestand darauf, auf Jacks Knie zu sitzen. »Weil er magisch ist«, antwortete sie, als sie deswegen gefragt wurde. Thomas und Matthew waren zurückhaltender als ihre kleine Schwester, aber sie lauschten andächtig seinen Geschichten voller Magie und Abenteuer und sahen sich gelegentlich mit weit aufgerissenen Augen an.
    »Und hast du sie irgendwann wiedergesehen?«, fragte Thomas leise. »Die Frau, die du hast verschwinden lassen und nicht mehr hast zurückholen können?«
    »Und was haben ihre Kinder dazu gesagt, als sie nicht zurückgekommen ist?«, wollte

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