Tag vor einem Jahr
Matthew wissen. Er machte Augen so groß wie Untertassen und schaute voller Angst, sie könnte womöglich auch verschwinden, zu seiner Mutter. Jack erkannte, dass er bei Matthew vielleicht etwas zu weit gegangen war; immerhin war er das jüngste männliche Familienmitglied und sehr leicht zu beeindrucken.
»Oh, ich habe sie zurückbekommen. Gleich am nächsten Tag. Sie musste aus Afrika eingeflogen werden, denn dort war sie gelandet.« Alle lachten und sprachen gleichzeitig, wir saßen Schulter an Schulter, der Duft von Lasagne und Rotwein umgab uns wie ein Band, und zusammen mit der Wärme in der Küche fühlte es sich an wie – zu Hause. So wie es früher immer gewesen war. Clare stieß mich in die Seite.
»Grace, Mam spricht mit dir.«
»Oh, Entschuldigung, Mam, ich war total in Gedanken. Was hast du gesagt?«
»Ich habe gefragt, wo Shane heute Abend ist.« Sie
sprach seinen Namen aus, als würde er ihr einen üblen Geschmack verursachen. Ich spürte, wie mir der Abend entglitt.
In Gedanken durchlief ich verschiedene Szenarien, die Shane in einem guten Licht erscheinen lassen und seine Abwesenheit völlig akzeptabel machen würden. Am Ende sagte ich: »Er ist mit Pauline, einer Bekannten von ihm, in der Stadt etwas trinken gegangen.« Angesichts der Offenheit meiner Antwort war ein allgemeines Atemholen zu hören. Ihnen war bewusst, dass es die Wahrheit war, ich konnte es in ihren Gesichtern ablesen. Es war tatsächlich befriedigend, und ich fragte mich, warum ich mich früher damit gequält hatte, ausgeklügelte Entschuldigungen für ihn zu erfinden. Der Mund meiner Mutter bildete ein restlos entsetztes O. Sie hatte das Schlimmste von Shane gedacht, und nun stellte sich heraus, dass sie vollkommen Recht hatte. Sie brauchte eine Ewigkeit, um sich zu fassen.
»Und, und … hast du ihm gesagt, dass du hierherkommst? Zum Abendessen? Mit deiner Familie?«
»Ja natürlich, das habe ich ihm alles gesagt. Ich habe ihn gebeten mitzukommen.« Ich zuckte mit den Achseln und kaute knirschend ein Stück Knoblauchbrot, als würde es mich überhaupt nicht kümmern. Dann trank ich einen großen Schluck Rotwein und schaute in die Runde. Der Einzige, der lächelte, war Jack. Alle anderen schienen sich unbehaglich (Richard und James) oder besorgt (Clare und Jane) zu fühlen oder in Gewitterstimmung (meine Mutter) zu sein. Ella, Thomas und Matthew waren zu sehr damit beschäftigt, mit dünnen Strohhalmen Schlabberkleckse zu trinken (eine köstliche Mischung aus Eiscreme und Orangenlimonade, die Oma Mary erfunden hatte), um uns Aufmerksamkeit zu schenken. Jack durchbrach die angespannte Atmosphäre, indem er aufstand
und dabei seinen Stuhl mit kratzendem Geräusch auf den Holzdielen zurückschob, etwas, was strengstens verboten war. Wir sahen Mam an, aber sie ließ es ihm durchgehen – dieses Mal. Er räusperte sich und schien sich etwas unwohl zu fühlen. Mam ließ ihre Hand in seine gleiten und drückte sie sanft.
»Ich wollte nur sagen, dass ich mich freue, Sie alle kennenzulernen. Ihre Mutter ist sehr stolz auf Sie, und mir ist vollkommen klar, warum.« Als er Letzteres sagte, sah er mich an und lächelte.
»Wie auch immer«, fuhr er fort, »ich möchte nicht die Gelegenheit verpassen, etwas zu sagen.« Er schien sich nicht sicher zu sein, was er als Nächstes sagen sollte, also griff Jane ein und hob ihr Glas. »Willkommen in der Familie, John.« Sie war im Begriff noch mehr zu sagen, aber Ella meldete sich zu Wort.
»Wirst du meine Oma heiraten?« Als sie das sagte, sah sie Jack mit Augen an, die so blau und klar wie ein Sommerhimmel waren. Wir brüllten alle vor Lachen, hoben unsere Gläser und johlten »Prost«. Jack lehnte sich hinüber und flüsterte Mam etwas ins Ohr, aber über all dem Lachen und Anstoßen konnte ich nicht verstehen, was es war.
Nach dem Essen zogen sich die Männer nach vorn ins Wohnzimmer zurück, um das Ende des Golfturniers anzuschauen, und die Kinder liefen hoch zum ausgebauten Dachboden, den meine Mutter zum Spielraum umgestaltet hatte. Die Frauen saßen um den Esstisch herum, ich betrachtete gedankenverloren die Apfeltorte, Clare und Jane sprachen über die Hochzeit, und Mam bereitete Tee zu. Sie hasste es, irgendwo anders Tee zu trinken als hier. Keiner konnte es besser als sie. Keiner brühte die Kanne – zweimal – mit kochend heißem Wasser aus, bevor er die Teeblätter hineingab. Keiner wartete die absolut notwendigen
drei Minuten für das Ziehen des Tees ab. Keiner konnte aus
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