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Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Geraghty
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nach einer Weile wieder zu uns. Wir drei saßen um den Tisch, an dem ich aufgewachsen war, und schoben uns Apfeltorte in unsere Münder, als wäre es das Letzte Abendmahl. Das Gefühl war wieder da, dieses panikartige Gefühl, das den Wunsch in mir weckte, so schnell und so weit von diesem Haus wegzulaufen, wie ich nur konnte. Vermutlich lag es an Mam. Ihre Trauer war wie ein Spiegel, in dem ich meine Schande und meine Schuld so klar sehen konnte wie einen Vollmond in einer wolkenlosen Nacht. Vor ihr musste ich meine eigene Trauer verbergen. Ich hatte sie nicht verdient. Es war ein seltsames Gefühl, heiß und erdrückend, wie ein Kleid, das zu eng saß. Dieses Gefühl raubte mir die Luft zum Atmen und ließ mich unter dem Tisch meine Hände zu Fäusten ballen. Ich musste hinaus, wollte aber keine Aufmerksamkeit
auf mich ziehen. Stattdessen blieb ich dort sitzen, trank Tee, lachte, wann immer alle anderen auch lachten, und fragte mich, ob es immer so bleiben würde.
    Der Asthmaanfall war an jenem Tag so plötzlich gekommen. Die ganze Messe über fühlte sich meine Brust beengt an, und ich atmete flach. Mir war heiß. Ich fühlte mich prallvoll mit Tränen, die ich noch nicht geweint hatte. Seit Spanien hatte Mam kaum mit mir gesprochen, und die Schuld zerfraß mich beinahe. Es geschah nichts, bis wir am Grab waren. Sie ließen ihn hinab, das dunkle Holz des Sargs schlug gegen die Wände des Grabes, als würde es protestieren. Ich erinnere mich an blaue Adern, die unter der Haut der Totengräber hervortraten, während sie die Taue nachließen, die um den Sarg lagen. Jemand warf einen Erdklumpen hinunter. Er krachte gegen das harte Holz. Meine Kehle ging so plötzlich zu, als hätte sich eine Hand um meinen Hals gelegt, und ich spürte, wie ich fiel, ohne dass es mich interessierte, wo ich aufkommen würde. Die Erde war von dem vorherigen Regen weich und matschig. Und kalt. Ich erinnere mich, wie kalt sich der Boden unter mir anfühlte. Und es interessierte mich nicht. Nichts interessierte mich. Weder die Kälte noch der Matsch noch das Nicht-Atmen. Es war fast eine Erleichterung, dort zu liegen, ich spürte Frieden. Clare war es, die mein Asthmaspray in der Tasche fand. Als sich die Menschenmenge um mich herum zerstreute, sah ich meine Mutter. Sie war schon auf halbem Weg den Hügel hinunter, sie ging, wandte mir den Rücken zu. Seitdem war ich nicht mehr am Grab gewesen.
     
    Endlich gähnte Jane und sagte, dass sie jetzt mal besser die Kinder nach Hause bringen sollten. Noch bevor sie ihren Satz zu Ende gesprochen hatte, hatte ich schon meinen Mantel an.

    »Ich gehe dann besser auch mal.« Ich sprach mit gesenktem Kopf und knöpfte umständlich die Knöpfe an meinem Mantel zu.
    »Ich hoffe, dass du Shane nicht abholst«, meldete sich meine Mutter zu Wort. »Er hatte nicht einmal Lust, sich heute Abend hier blicken zu lassen.«
    »Nein, Mam, das mache ich nicht.« Ich tastete unter dem Tisch nach meiner Handtasche.
    »Hm.« Sie stand auf und strich sich mit den Händen über die Hüften. Überrascht schaute sie nach unten, sie hatte vergessen, dass sie Jeans anhatte und nicht wie üblich einen Rock, den sie immer glattstrich, wenn sie aufstand, ob es notwendig war oder nicht. Meine Hand schloss sich um den Henkel meiner Tasche, und ich zog sie unter dem Tisch hervor. Der Henkel hatte sich unter einem Stuhlbein verfangen, ich kroch hinunter, um ihn loszumachen.
    »Grace, was um Himmels willen machst du da unten?«, wollte Mam wissen. Ich stellte mir vor, wie sie den Kopf schüttelte und die Augen verdrehte. Um ihrer Verärgerung schnell ein Ende zu bereiten, beeilte ich mich und stieß in der Hast mit dem Kopf gegen die Unterseite des Tisches. Taumelnd stand ich auf, achtete aber tunlichst darauf, mir nicht den pochenden Teil meines Kopfes zu reiben. Mit breitem Lächeln und der Tasche über der Schulter, ging ich auf die Küchentür zu.
    Das Gefühl drückte mich hinunter. Eilig brachte ich die Verabschiedung hinter mich und hatte es fast geschafft, die Haustür war schon in Sichtweite, als Ella hinter mir herrannte und auf einer Umarmung bestand. Ich kauerte mich hinunter und zog ihren kleinen Körper fest an mich, atmete ihren warmen Duft nach Seife ein, ihre Locken kitzelten in meinem Gesicht. Sie löste sich als Erste und sah zu mir hoch.

    »Wenn ich traurig bin, Gwayth, frage ich meine Mam, ob sie mir ein dleines Lied singt. Soll ich fragen, ob sie dir ein dleines Lied singt?« Ich starrte auf sie hinunter,

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