Tag vor einem Jahr
aussagekräftigste Hinweis war.
Ich wusste, dass ich nicht zum Friedhof gehen würde, dennoch stand ich noch immer da, dachte mir Entschuldigungen aus und präsentierte sie mir selbst, als wären wir zu zweit: Wie wäre es, wenn ich nach der Hochzeit ginge? Ich griff nach diesem Gedanken wie nach einem Rettungsring. Das wäre sinnvoll. Diese Woche war viel zu tun, nicht wahr? Nächste Woche würde ich mehr Zeit haben, oder? »Ich gehe nach der Hochzeit«, sagte ich laut, nur um zu sehen, wie es sich anhörte. Es klang vernünftig. Sogar verantwortungsbewusst.
»Wohin gehst du nach der Hochzeit?«
Ich fuhr herum und zerrte mir dabei den Nacken. Es war nur Caroline. Sie wusste, dass ich Selbstgespräche führte.
»Was tust du denn hier? Schon wieder?« Das war eine logische Frage.
»Schau mich nicht so an.«
»Wie an?«
»Als wäre ich eine Stalkerin oder so etwas.«
»Bist du das nicht?« Aus dem Augenwinkel heraus konnte ich sehen, wie sich die Tür öffnete, und zwar die, die ins Bürogebäude führte. Wir wandten uns beide in die Richtung. Es war nur Niall, der sich mit zwei Tüten vom Supermarkt herauskämpfte und dabei sehr angestrengt aussah. Er nickte uns »guten Abend« zu und stieg in seinen Wagen ein.
»Ich war in der juristischen Bibliothek«, sagte Caroline.
»Oh, dann warst du also nicht wie heute Mittag zufällig in der Gegend.« Meine Stimme klang schärfer als beabsichtigt.
Doch Caroline war viel zu guter Stimmung, um sich von mir unterkriegen zu lassen.
»Ich wollte dich auf einen Drink mitnehmen und dir alles über mein Date heute Mittag erzählen.«
»Date?« Oh Gott, hör auf, hör bitte auf. Warum konnte ich es nicht einfach auf sich beruhen lassen?
»Na ja, Mittagessen eigentlich, aber ich arbeite daran. Er ist wie ein schwieriger Kunde, dieser Bernard O’Malley. Ist mit dir alles in Ordnung?« Ihr besorgter Blick ließ meine Eifersucht dahinschwinden, und ich schaute beschämt weg.
»Es geht mir gut. Mach dir keine Sorgen um mich. Hatte einfach einen anstrengenden Tag. Ein Drink wäre ganz wunderbar.« Ich hakte mich bei ihr unter, und wir zogen los. Normalerweise ließ sich Caroline nicht so gern berühren, aber ich wusste, dass es ihr heute nichts ausmachen würde. Heute strahlte sie wie die Sommersonne.
»Erzähl mir also von deinem Mittagessen.« Ich riss mich zusammen.
»Das Mittagessen. War. Fantastisch.« Sie blieb stehen, als sie dies sagte. Eine Stimme in mir rief: »Frag sie nicht, frag sie nicht, frag sie nicht!«
»Hat er dich geküsst?«, fragte ich.
»Tss, tss. Das ist, wie wenn man die letzte Seite eines Buches liest, bevor man überhaupt damit angefangen hat.« Sie ging weiter, blieb aber erneut stehen, als sie bemerkte, dass ich mich nicht bewegt hatte. Ich redete in sanfterem Tonfall weiter.
»Komm schon, sag es mir. Hat er dich geküsst?«
Caroline seufzte und spielte mit dem Henkel ihrer Tasche. Ich fühlte mich schwach vor Erleichterung. Und Beschämung.
»Nein, hat er nicht«, sagte sie, »aber er wollte.« Ich glaubte es ihr ohne Vorbehalt. Wir gingen zusammen weiter
und steuerten, ohne es besprochen zu haben, auf das O’Reilly’s zu, was mir Zeit zum Nachdenken gab. Ich kam zu dem Schluss, dass es tatsächlich noch schlimmer war, wenn man jemanden küssen wollte und ihn nicht küsste, als wenn man jemanden küssen wollte und ihn küsste. Im ersten Fall spielt ein Gefühl eine Rolle, dass man Vorfreude nennt. Du willst jemanden küssen, tust es aber nicht, also bist du voller Vorfreude darauf, wie der Kuss vielleicht sein könnte, und diese Vorfreude könnte sich leicht in so etwas wie Besessenheit verwandeln, sodass du das nächste Treffen mit dieser Person, die du küssen wolltest, aber nicht geküsst hast, kaum noch erwarten kannst. Dann nämlich kannst du die Person endlich küssen wollen und tatsächlich auch küssen – habe ich mich verständlich ausgedrückt?
Auf dem Weg zum Pub ließ Caroline kein Detail aus. Wo sie waren (Milanos), wo sie gesessen (in der hinteren Ecke, wo das Licht schummrig ist), was sie gegessen hatten (er Pizza mexikanisch, sie vegetarisch, jeder ein Glas Wein).
»Warum habt ihr nicht einfach eine Flasche bestellt? Da bekommst du viel mehr für dein Geld.« Ich klang genau wie meine Mutter. Caroline fiel es nicht auf.
»Ich weiß, ich wollte ja auch, aber Bernard meinte, er müsse wegen der Sitzung, die ihr am Nachmittag mit dem Chef hattet, nüchtern bleiben.«
Das freute mich, auch wenn Caroline Bernards
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