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Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Geraghty
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wahnsinnig freuen, wenn du mich weggibst, wirklich.« Sie legte ihre kleine Hand auf seine.
    Jetzt geschah etwas wirklich Eigenartiges. Mam beugte sich vor und legte ihre Hand wiederum auf Clares – ohne gefragt oder aufgefordert zu werden, meine ich. Jane legte ihre Hand auf Mams, und bevor ich wusste, was ich da machte, legte ich meine auf Janes. Ein Händeturm der O’Brien-Familie. Das sah uns nicht ähnlich. So war man bei den Waltons. So war man in Unsere kleine Farm. Aber in diesem Augenblick fühlte ich mich mit diesen Menschen
verbunden. Diesen Filmfamilien. Schließlich sagte Patrick: »Und dich werde ich auch weggeben, wenn es so weit ist, Grace.« Darüber lachten wir alle, unsere Hände hoben sich und entfernten sich voneinander wie Vögel, die auseinanderstieben. Es war das letzte Mal, dass wir alle zusammen waren.
    Clare, ich werde dich weggeben. Das hatte er gesagt. Aber am Ende war ich es, die ihn weggab.
    »Ihr wird es bestens gehen«, sagte ich laut, und wir beide schreckten beim Klang meiner Stimme etwas auf. »Du kennst Mam, sie ist wie ein Soldat. Oder eher wie ein Ochse, so stark ist sie.«
    »Ich wünschte, alles wäre anders«, sagte Clare. Ihre Stimme klang dünn, und ihre Augen schimmerten. Mir war bewusst, dass wir am Rande von etwas standen, das nicht gut war. Hatte Clare beschlossen, eine Stunde vor der Trauung die Fassung zu verlieren? Zehn Minuten, nachdem die Kosmetikerin gegangen war und all die kleinen Zaubertöpfchen mit sich genommen hatte, mit denen man ein tränengerötetes Gesicht in den Griff bekommen konnte? Clare hatte sich so lange zusammengenommen, hatte uns zusammengehalten. Und jetzt nach einem Jahr voller Fassung, Stabilität und Kraft war sie bereit, das alles wegzuwerfen, sich gehenzulassen, als reichte es ihr nun endlich? Als Erste Brautjungfer durfte ich das nicht zulassen. Ich richtete mich in meinem großen Unterhöschen, noch größerem BH und den High Heels zu voller Höhe auf – und das war ziemlich hoch, insbesondere wenn man bedenkt, dass mein volles, langes Haar oben auf meinem Kopf wie zu einer Krone aufgetürmt war. Ich war so sicher beinahe eins dreiundachtzig groß, fast so groß wie Patrick.
    Ich warf meinen Kopf in den Nacken und begann laut zu singen. Und zwar das erstbeste Lied, das mir in den Sinn
kam. Es war »Islands in the Stream«. Ich konnte es selbst nicht glauben. Von diesem Kerl mit dem Silberhaar und dem Anzug. Er hat es mit Dolly Parton gesungen, kann sich jemand erinnern?
    Mit voluminösen Mädchen wie mir hat es etwas Seltsames auf sich. Die meisten von uns können singen – ich meine, richtig singen. Vielleicht hat es etwas mit unserem Körperbau zu tun – große Lungen oder so. Oder vielleicht war es eine Gabe, die uns Gott verliehen hat, um uns für unsere unhandliche Größe zu entschädigen. Ich konnte singen, und das Eigenartige an meiner Stimme war, dass sie lieblich und nicht zu kräftig klang, fast als würde sie zu einem anderen Menschen gehören. Ich beendete den Refrain und holte Luft, um noch einmal von vorn zu beginnen. Clare anzusehen, wagte ich nicht, aber ich wusste, dass sie nicht weinte, und das war das Wichtigste.
    Als ich den Refrain zum zweiten Mal sang – natürlich konnte ich mich an keine einzige Zeile der übrigen Verse erinnern -, begann ich mittendrin zu tanzen. Und dann fiel Clare mit ein. Jetzt war ich mutig genug, einen Blick auf sie zu werfen. Sie sah resigniert aus. Ergeben in ihre Rolle als Mädchen, das nicht zusammenbricht. Als Mädchen, das seine Fassung nicht verliert. Als das brave Mädchen. So nannte meine Mutter sie immer. Ich nahm ihre beiden Hände in meine, und wir schwangen unsere Arme im Rhythmus des Liedes, das wir inzwischen schmetterten, als wären wir Tina Turner bei ihrem letzten und wirklich allerletzten Abschiedskonzert .
     
    Als wir anfingen, miteinander im Einklang zu singen, wusste ich, dass die Gefahr gebannt war. Die Tür schwang auf, und Mam und Jane standen dort, sie keuchten und wirkten besorgt. Ich verstummte, aber Clare machte bis zum
Ende des dritten Refrains weiter. Gott segne sie, sie traf keinen einzigen Ton. Zum Ausgleich durfte sie aber wiederum Kleidergröße 34 und hübsche Sandalen aus der Kinderabteilung von Monsoon tragen. Wir waren beide atemlos.
    »Clare war ein bisschen …«, begann ich.
    »Ich habe einfach nur das große Zittern vor der Hochzeit«, erklärte Claire. Mams Gesicht wurde weich, und sie ging mit ausgestrecktem Arm auf Clare zu. Einen

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