Tag vor einem Jahr
meinen Wunsch, dass alles anders wäre. Mam zeichnete sein Gesicht mit dem Finger nach. Es war eine unerträglich zärtliche Geste – wenn sie bemerkte, dass ich dastand und ihr dabei zugesehen hatte, würde ihr das äußerst peinlich sein.
Deshalb schlich ich zurück. Dann nahm ich den Weg über die Küche, öffnete laut die Tür und schloss sie ebenso laut wieder hinter mir, stakste klackernd über die Keramikfliesen. Bis ich wieder ins Wohnzimmer kam, stand das Bild an seinem angestammten Platz, und sie kehrte ihm den Rücken zu.
»Ah, Grace, bist du endlich fertig. Wie ist das Kleid? Ich hoffe, nicht zu eng?«
»Nein, ich …«
»Und hier ist sie.« Mam wirbelte herum, um ihre jüngste Tochter zu begutachten. »Clare, du siehst wundervoll aus, wirklich. Du bist doch nicht nervös, oder?«
Clare sah zu mir herüber und lächelte. »Nein, es geht mir gut. Grace hat mich wieder beruhigt.«
»Grace, würdest du bitte ein Foto von Clare und mir machen?« Mam gab mir ihre Kamera. Es war eine jener schweren, klobigen Kameras, die schon seit mindestens zwanzig Jahren nicht mehr hergestellt wurde. Ich hielt die Kamera hoch, schaute mit meinem rechten Auge durch das Sichtfenster und stellte die beiden scharf: zwei Frauen, die sich, abgesehen von ihrer Größe, bemerkenswert ähnlich sahen. Wollte ich den Saum von Clares Kleid mit aufs Bild bekommen, musste ich Mams Kopf abschneiden. Kein Zoom. Ich ging so weit nach hinten, wie ich nur konnte. Fast war ich schon in der Küche.
»Beeil dich, Grace, der Wagen kann jede Minute da sein.« Meine Mutter warf durch die Gardinen hindurch einen prüfenden Blick auf die Straße.
Ich stöckelte wieder ins Wohnzimmer zurück, entschlossen, einfach ein konventionelles Bild zu schießen, Mutter und Tochter von der Taille aufwärts und mit beiden Köpfen. Man bemerke, dass ich jetzt sogar schon »schießen« sagte und nicht »machen«, ich kam also etwas in Fahrt.
»Stellt euch näher zusammen«, kommandierte ich. Dann fiel mir auf, dass am Rand des Suchers gerade noch das Foto von Patrick und mir zu sehen war. Ich schlurfte nach rechts, und es verschwand aus dem Bild.
»Okay Leute, sagt ›cheese‹.«
Clare schrie viel zu laut »cheese«, und Mam lächelte wie üblich mit geschlossenem Mund. Wenn es ihr möglich war, zeigte sie ihre Zähne nicht – sie hasste ihre Zähne. Doch sie neigte ihren Kopf zu Clares Kopf und hielt ihre Hand, wie es vielleicht eine Mutter macht, die ihr Kind zum ersten Mal zur Schule bringt.
»Jetzt bist du dran, Grace. Ich mach eins von dir und Mam.« Clare kam auf mich zu.
»Ich gehe und hole Jane, dann können wir alle drauf«,
sagte Mam und ging schon zur Diele. Ich drehte mich um zu Clare.
»Bist du bereit?«
»Für Richie Rich?«
»Und die Hochzeitsnacht mit Richies großem Freund?«
»Woher weißt du, dass er groß ist?«
»Ist doch klar. Reiche Kerle haben große Schwänze. Das ist ein genauso eindeutiger Hinweis wie eine Barry-Manilow-Nase.«
Wir waren gerade dabei, schon wieder loszuprusten, doch dann ließ Clare es gut sein und schaute mir geradewegs in die Augen.
»Ich bin bereit«, sagte sie. Und sie war es.
45
Genau wie es für Clare typisch war, fuhren wir zehn Minuten zu früh vor der Kirche vor.
»Himmel, ich darf nicht zu früh sein. Seine Mutter lässt mich vielleicht nochmal den Ehevertrag unterzeichnen, wenn ich vor der Trauung Zeit habe.« Clare hatte die Schultern bis zu den Ohren hochgezogen. Und ihre Ängste in Bezug auf Mrs Ryan – in zehn Minuten ihre Schwiegermutter – hatten vermutlich ihren guten Grund. Sie war eine dieser kleinen Frauen, deren Größe im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Fähigkeit stand, auf andere einschüchternd zu wirken. Sie konnte »Wie nett, Sie kennenzulernen« in einer Art sagen, die nahelegte, dass sie deinen Namen bereits wieder vergessen hatte. Sie übte keinen Beruf aus, sie leitete eine dieser Stiftungen, die Geld geben. Sie bestritt ihren Lebensunterhalt damit, dass sie Schecks unterzeichnete. Ich hätte auch gerne eine solche Tätigkeit, aber für ein Engagement wie dieses braucht man augenscheinlich richtig viel Geld. Vor langer Zeit war sie in der Liebe enttäuscht worden. Es war keine jener Enttäuschungen, die einen stärker machen, sondern eine von der anderen Sorte. Eine Enttäuschung, die einen verbittern lässt, woran sich bis zum Tod nichts mehr ändert.
»Noch einmal ums Karree, Jeeves«, befahl ich in bester Queen-Mother-Manier, während ich mit der Hand
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